„Es geht ums Überleben": Tirolerin entwickelt zertifiziertes Schwimmkonzept
Jedes zehnte Kind in Österreich kann nicht schwimmen. Durchschnittlich sterben zwischen 22 und 47 Personen jährlich in Österreich durch Ertrinken. Bei tödlichen Kinderunfällen sind Ertrinkungsunfälle sogar die zweithäufigste Todesursache in Österreich. Die Innsbruckerin Katja Hirner hat jetzt eine Schwimmhilfe mit begleitendem Lernkonzept entwickelt, das sich gegen diese Negativ-Spirale stellen soll.
Innsbruck – In vielen Jahren als Schwimmlehrerin hat Katja Hirner einiges gesehen, aber die Nachwehen der Corona-Pandemie haben sogar die Wahl-Tirolerin schockiert. "Es gab nach Corona so viele Nichtschwimmer und die Unsicherheit im Wasser ist gewachsen. Zum Teil habe ich in meinen Kursen richtige Überlebensängste miterlebt", schildert die Trainerin. Erlebnisse, die nicht spurlos an der leidenschaftlichen Schwimmerin vorübergehen, gibt es viele. "Ich bin wirklich oft mit Tränen in den Augen raus aus meinen Kursen. Im letzten August habe ich dann im Urlaub angefangen, Ideen zu sammeln. Ich hab mir immer wieder die Frage gestellt, wie ich vielen Menschen mit einem einfachen Mittel helfen kann."
Tatsächlich hat auch eine aktuelle Studie des Kuratoriums für Verkehrssicherheit ergeben, dass jedes zehnte Kind in Österreich nicht mehr schwimmen kann. Pro Jahr sterben zwischen 22 und 47 Menschen durch Ertrinken, bei Kindern ist es die zweithäufigste Todesursache.
Hirner weiß, dass sieben von zehn Kinder in der Familie schwimmen lernen. Hinzu kommt, dass die Auslastung in Schwimmkursen enorm ist. Die Folge: Vor allem Kinder und Jugendliche – aber auch viele Erwachsene – können nicht mehr richtig schwimmen. Im Ernstfall eine Frage des Überlebens. Doch wie erreicht man Menschen, die sich einen Schwimmkurs entweder nicht leisten können oder den Bedarf dafür nicht sehen? Der entscheidende Einfall kommt ihr dann fast im Schlaf: "Ich bin um 3 Uhr Früh aufgestanden und habe angefangen zu zeichnen", lacht sie rückblickend über den Moment, als ihr eingefallen ist, wie eine Schwimmhilfe aussehen könnte, mit der viele Menschen problemlos zurecht kommen. Es ist die Geburtsstunde des "swim bro®", wie sie ihre Erfindung tauft. Dabei handelt es sich um eine Art verkürzte Schwimmnudel, die man in drei Teile zerlegen kann. "Ich wollte bewusst etwas Bekanntes, das im Wasser gerne genutzt wird, bei dem die Hemmschwelle also gering ist. Es sollte außerdem für jeden leistbar sein", erklärt sie.
Infos zum "swim bro®"-Konzept
"swim bro®": Es handelt sich um eine Art Schwimmnudel mit einer Länge von 1,20 Metern. An jeder Seite kann ein 20 Zentimeter langes Seitenstück abgesteckt werden. Sobald die Sicherheit im Wasser gegeben ist, wird die Nudel jedes Mal um ein Stück verkürzt. Die Schwimmhilfe wird in Österreich produziert, ist frei von Schadstoffen und kann aufgrund ihrer zerteilbaren Länge immer und überall hin mitgenommen werden.
Stickerpass: Für die Motivation wird außerdem mit einem dazugehörigen Stickerpass gearbeitet, in dem die Eltern die Fortschritte ihrer Kinder festhalten können.
Lern- und Erklärvideos: Auf einer begleitenden Homepage werden die einzelnen Schritte anhand von detaillierten Videos zur Verfügung gestellt. Derzeit gibt es sie in drei Sprachen – Deutsch, Englisch und Italienisch. Weitere sollen folgen. Der Content wird laufend erweitert, sodass er auch für Menschen interessant ist, die die Schwimmhilfe zur Verbesserung ihrer Schwimmtechnik oder nach einer Verletzung nützen wollen.
Der "swim bro®" kann derzeit über die Homepage www.swim-bro.com bestellt werden.
Lernkonzept richtet sich an alle
Nachdem die Idee in ihrem Kopf ist, beginnt sie mit der Umsetzung und macht damit ihren gesamten Bekannten- und Freundeskreis "narrisch", weil sie nach der perfekten Lösung sucht. Denn es ist gar nicht so einfach, das Material so zu schneiden und zu produzieren, sodass der Auftrieb in allen Schwimmlagen gegeben ist. "Ich habe es immer wieder im Wasser getestet und sogar mit der Feile angepasst", erinnert sie sich an die Anfänge. Bis sie die "Kinder guten Gewissens auf das Produkt loslassen kann", wie sie es scherzhaft nennt, vergehen einige Monate. Bis die Zertifizierung, die TÜV-Prüfung und der Markenschutz über die Bühne sind, lässt sich nicht zur einiges an Zeit und Geld liegen, sondern auch mal ihre Nerven. "Aber das war es wert", freut sie sich über den Verkaufsstart.
Doch mit einer Schwimmhilfe alleine ist es nicht getan: Hirner, die in Innsbruck die Schwimmschule "Swim.Tirol" betreibt, entwickelt mit dem Prototyp ihres "swim bro®" ein ganzes Konzept, das sie in Lern- und Erklärungsvideos verpackt. Auf einer eigenen Homepage können Kunden darauf derzeit in deutscher Sprache zugreifen – Videos auf Englisch und Italienisch sollen Ende Juni folgen. Damit will sie allen, die ihr Produkt nützen, ein Werkzeug in die Hand geben, um nachhaltig und Schritt für Schritt ein gutes und sicheres Schwimmen zu lernen. Als Motivation für die Kinder gibt es außerdem einen Stickerpass, in den die jeweiligen Erfolge vermerkt werden können.
Das Konzept richtet sich übrigens nicht nur an Familien mit Kindern. Auch Jugendliche oder Erwachsene, können mit einer Sonderausführung der Schwimmnudel, die etwas länger ist, an ihrer Schwimmtechnik feilen oder diese von Grund auf lernen. Ein weiterer großer Anwendungsbereich liegt in der Physiotherapie, weil das Konzept ein sehr gutes Mittel in der Reha darstellt.
Katja Hirner hat jedenfalls viel vor: Sie hat ihr Konzept zum Patent angemeldet und strebt derzeit den europäischen Markt an. Dann möchte sie auch die USA anvisieren. Doch vorerst geht es ihr darum, langsam zu wachsen, denn sie weiß, dass mit dem Verkaufsstart noch Verbesserungen anstehen werden und Kundenrückfragen abgearbeitet werden müssen. "Es geht um die Verantwortung am Menschen. Und wo es ums Überleben geht, riskiere ich keine Sekunde etwas." (rena)
Nichtschwimmen als gefährlicher Negativ-Trend
Wie Untersuchungen des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KFV) zeigen, gibt es aktuell rund 600.000 Nichtschwimmende in Österreich, davon rund 148.000 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen fünf und 19 Jahren. „Unsere Erhebungszahlen zeigen, dass sich die Negativrekorde gegenüber den Erhebungen aus dem Jahr 2020/2021 tendenziell minimal, aber immerhin verbessert haben. Wir liegen dennoch in der Altersgruppe der Kinder beim Schwimmen lernen und bei der Schwimmfrequenz weit unter dem Vor-Corona Niveau. Hier besteht weiterhin dringender und vor allem nachhaltiger Handlungsbedarf“, so Johanna Trauner-Karner, Leiterin der Abteilung Sportsicherheit im KFV. Infolge der Corona-Pandemie kam es in Österreich zu Komplettausfällen beim Schwimmunterricht mit Millionen an entfallenen Schwimmstunden. Im zweiten Jahr der Pandemie wurde das Angebot zwar wieder leicht erhöht, dennoch fanden in Österreich weiterhin rund 4,2 Millionen Schwimmstunden in den letzten 12 Monaten nicht statt.
Als negativ erweist sich außerdem, dass die Österreicher deutlich seltener schwimmen gehen als noch vor einigen Jahren. Wie gut man schwimmen kann, hängt nicht nur davon ab, ob man es je gelernt hat, sondern auch von der Praxis: „Über alle Altersgruppen hinweg sehen wir, dass die Schwimmfrequenz nach wie vor auf niedrigem Niveau ist. Bei der Altersgruppe 50+ ist die Schwimmfrequenz nach wie vor sogar doppelt so gering wie vor Corona. Bei den Kindern bedeutet die geringe Schwimmfrequenz, dass etliche zwar mit ersten Schwimmversuchen gestartet haben, dennoch damit zu wenig Übung haben um sicher schwimmen zu können. Das ist vor allem für Eltern und Aufsichtspersonen ein wichtiger Gefahrenhinweis, das Können ihrer Kinder nicht zu überschätzen“, betont Trauner-Karner. Wie in vielen anderen Bereichen verstärkten die letzten Jahre auch beim Thema Schwimmen bereits bestehenden Unterschiede in den Bevölkerungsgruppen. Sozial schwächer gestellte Bevölkerungsgruppen hatten in den vergangenen Jahren die wenigsten Möglichkeiten schwimmen zu gehen.
„Schwimmen ist eine unvergleichbare Überlebenstechnik, deshalb ist es gerade für Kinder ganz besonders wichtig schwimmen zu lernen. Und das braucht Zeit, Übung und auch Erfahrung mit dem Element Wasser. Wenn wir nicht hinnehmen wollen, dass auf Dauer viele Kinder – vor allem aus sozial schwächer gestellten Familien, die sich Privatschwimmkurse schlichtweg nicht leisten können – nicht schwimmen können, müssen auf allen Ebenen die Anstrengungen noch einmal weiter verstärkt werden. Hier braucht es mitunter innovative Maßnahmen angefangen von weiteren Förderungsunterstützungen bis hin zu unbürokratischen Zugängen zu Wasserflächen, Bädern und Unterstützung der Schulen bei der verstärkten Schulschwimmausbildung im Rahmen des Schulsports“, so die KFV-Expertin.