Zweites Literaricum Lech: Facetten von Verzicht und Verweigern
„Ich möchte lieber nicht“: Das zweite Literaricum Lech rückt Herman Melvilles Erzählung „Bartleby, der Schreiber“ ins Zentrum.
Lech – Als Herman Melville 1853 die Geschichte von Bartleby, dem Schreiber, veröffentlichte, war die Wall Street noch nicht, was sie heute ist. Aber sie war gerade dabei, es zu werden. Und „Bartleby, der Schreiber“ war irgendwie ein Phantasma. Ein Rätsel. Er war einfach da – „ausdruckslos sauber, erbarmungswürdig achtbar, hoffnungslos einsam“. Kein Vorname, nur eine Berufsbezeichnung. Und ein Satz: „Ich möchte lieber nicht.“ So jedenfalls lautet die gängige deutsche Übersetzung. Im Original ist die Unwillensbekundung noch höflicher: „I would prefer not to“ – „Ich würde es vorziehen, das nicht zu tun.“ Das erklärt der Schreiber eines Tages seinem Chef, einem Wall-Street-Anwalt. Und dabei bleibt es: Was immer sein Chef verlangt, Bartleby möchte lieber nicht. Nach und nach entzieht er sich allen Forderungen, die an ihn gestellt werden. Am Ende verhungert er in Haft.
Melvilles kurze Erzählung – sie stand lange im Schatten seines Großromans „Moby Dick“ – wurde gerade in den vergangenen Jahren immer wieder als Interpretationsfolie herangezogen: Verweigerung als Widerstand; Verzicht als Strategie gegen spätkapitalistische Zwänge; oder ein höfliches „Ich möchte lieber nicht“ als einziger Ausweg aus den zusehends heftiger, faktenbefreiter und moralisierender geführten Debatten. Bartlebys entwaffnendes Nein hat revolutionäres Potenzial – nicht von ungefähr posiert der Philosoph Slavoj Žižek gern mit „I would prefer not to“-Shirt. Aber Melvilles Erzählung einer allmählichen Selbstauslöschung – weil es im falschen Leben frei nach Adorno eben kein richtiges geben kann – verzichtet auf umstürzerisches Pathos: Bartleby verschwindet im Stillen. Gerade das macht diese kleine Geschichte groß. Ideologie? „I would prefer not to.“
Beim Literaricum Lech – der von den Autoren Raoul Schrott und Michael Köhlmeier ersonnenen und von der Journalistin Nicola Steiner kuratierten literarischen Sommerfrische am Arlberg – gibt „Bartleby, der Schreiber“ heuer das Thema vor: Elke Heidenreich widmet ihm und ihrer Faszination für ihn am Donnerstag, 14. Juli, ihren Eröffnungsvortrag – und diskutiert tags darauf mit der Politologin Juliane Marie Schreiber über „Verweigerung als Lebenshaltung“. Auch der diesjährige Joseph-Breitenbach-Preisträger Karl-Heinz Ott, Frank Witzel und Übersetzter Ulrich Blumenbach stellen Bartleby ins Zentrum ihrer öffentlichen Überlegungen. Einzig Mitinitiator Raoul Schrott schert etwas aus. Der Tiroler beschäftigt sich in Lech unter dem Titel „Die Blüte des nackten Körpers“ mit altägyptischer Liebeslyrik.
Das Literaricum Lech findet heuer zum zweiten Mal statt. Das Festival widmet sich den Echos weltliterarischer Klassiker im zeitgenössischen Schreiben. In Zukunft soll in Lech auch ein Lyrikpreis vergeben werden. Noch ist der „Poeta Laureatus“ in der Planungsphase. Die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung soll auch mit einem Auftrag verbunden sein: Die oder der Geehrte verpflichtet sich, ein Jahr lang das Zeitgeschehen lyrisch zu begleiten. (jole)
📚 2. Literaricum Lech. 14. bis 16. Juli in Lech am Arlberg. www.literaricum.at