Ukraine-Krieg

IAEA: AKW Saporischschja vorläufig keine unmittelbare Bedrohung

Das Kernkraftwerk Saporischschja ist größte Akw Europas.
© IMAGO/Konstantin Mihalchevskiy

IAEA-Chef Rafael Grossi warnt, die Lage könne sich jedoch jederzeit ändern. Seitens des Umweltministeriums in Wien hieß am Freitag, für Österreich bestehe derzeit keine Gefahr. Der ukrainische Präsident Selenskyj fordert einen Abzug der Russen vom AKW-Gelände. Die USA plädieren für eine internationale Experten-Mission.

New York – Die bedrohliche Lage im russisch besetzten Kernkraftwerk Saporischschja im Süden der Ukraine hat am Donnerstag den UN-Sicherheitsrat in New York beschäftigt. Zwar stelle das mehrfach beschossene größte Kernkraftwerk Europas derzeit kein Sicherheitsrisiko dar, berichtete der Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi. „Dies kann sich jedoch jederzeit ändern." Moskau deutete unterdessen an, eventuell russische Truppen aus dem Umfeld des AKW abzuziehen.

Seitens des Umweltministeriums in Wien hieß am Freitag in einer Aussendung: „Die Strahlenfrühwarnsysteme in der Ukraine und in Österreich zeigen keine erhöhten Messwerte. Es gibt derzeit keine Freisetzung von radioaktiven Stoffen und damit auch keine Auswirkungen außerhalb der Anlage." Für Österreich bestehe daher aktuell keine Gefahr.

Angesichts des andauernden Beschusses des Atomkraftwerks Saporischschja im Süden der Ukraine gab es am Freitag in Moskau erste Stimmen, wonach eine Entmilitarisierung der Zone sinnvoll sein könnte. „Das ist eine vernünftige Forderung, ich denke, wir werden das unterstützen", sagte der Vizechef des Außenausschusses im russischen Parlament, Wladimir Dschabarow, der Agentur Interfax zufolge. Die Kontrolle über das AKW will Moskau aber behalten. Eine Übergabe des leistungsstärksten Kernkraftwerks in Europa an die Ukraine schloss Dschabarow aus. „Russland muss die Kontrolle über die Anlage behalten", betonte der Duma-Abgeordnete der Kremlpartei "Geeintes Russland".

Zuvor hatte Russlands UN-Botschafter Wassili Nebensja die Forderung nach einem Abzug der Truppen noch abgelehnt. Der russische UN-Botschafter sagte aber russische Unterstützung für den Besuch einer internationalen Expertenkommission in dem AKW zu. In Kiew forderte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen sofortigen Abzug der russischen Truppen aus dem Werk und warf Moskau „nukleare Erpressung" vor. „Niemand sonst hat ein Atomkraftwerk so offensichtlich benutzt, um die ganze Welt zu bedrohen und Bedingungen zu stellen", sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache.

Appell österreichischer Ärzte

Österreichische Ärzte appellierten am Freitag in einer Aussendung an die Konfliktparteien in der Ukraine, die Eskalationsstufen nicht weiter zu erhöhen. „Die Leidtragenden sind nicht nur die Menschen, die nicht direkt an den Kampfhandlungen teilnehmen, sondern auch die Umwelt und der Lebensraum, die durch rücksichtlose Angriffs- und Verteidigungstaktiken nachhaltig geschädigt werden" so der Umweltmediziner und Sportarzt Piero Lercher.

Atomkraftwerke, die sich im Kampfgebiet befinden, seien eine „apokalyptische Bedrohung". Das betreffe nicht nur das Gebiet der Ukraine, sondern auch Österreich aufgrund der geringen Entfernung zum nächstgelegenen ukrainischen Atomkraftwerk von nicht einmal tausend Kilometern. „Wir appellieren daher, vom Beschuss der Anlagen striktest abzusehen", betonte der Orthopäde Christoph Michlmayr. „Immerhin sind es wir Ärzte- und Ärztinnen, die im Falle einer Katastrophe mit den Folgen zu tun haben und es sei hier erwähnt, dass eine ärztliche Hilfe bei mittleren und schweren Strahlenerkrankungen nur eingeschränkt möglich ist", so Lercher und Michlmayr unisono.

170. Tag des Kampfes gegen die russische Invasion

Über der gesamten Ukraine wurde am Donnerstagabend zweimal Luftalarm ausgelöst. Der ukrainische Generalstab berichtete von heftigen Kämpfen im Osten des Landes, wo russische Truppen im Donbass vorzurücken versuchen. Für die Ukraine ist am Freitag der 170. Tag des Kampfes gegen die russische Invasion.

Nur wenige Stunden vor der von Russland beantragten Sitzung des mächtigsten UN-Gremiums war Europas größtes Atomkraftwerk erneut unter Beschuss geraten. Nach Angaben der Besatzungsbehörde wurde aus Orten unter ukrainischer Kontrolle geschossen. Der ukrainische Konzern Enerhoatom berichtete von zehn Einschlägen in der Nähe. Überprüfbar waren die Angaben nicht. Zuvor hatte die Ukraine Russland beschuldigt, das AKW ins Visier zu nehmen.

Grossi forderte Moskau und Kiew vor dem Sicherheitsrat auf, einen Besuch internationaler Experten schnell zu ermöglichen. „Ich persönlich bin bereit, eine solche Mission zu leiten." Ohne physische Präsenz von Vertretern der IAEA könnten wichtige Fakten nicht zusammengetragen werden. Auch die USA drängten auf eine Reise von Experten: „Dieser Besuch kann nicht länger warten", sagte die Unterstaatssekretärin für Rüstungskontrolle, Bonnie Jenkins.

Nebensja sagte Kooperation zu. Er zog aber die Kiewer Bereitschaft in Zweifel, eine solche Mission zuzulassen. Der Botschafter lehnte auch die Forderung nach einer Demilitarisierung des Kraftwerks ab, wie sie unter anderem UN-Generalsekretär António Guterres erhoben hatte. Das mache das AKW anfällig für Provokationen und Terrorakte, sagte Nebensja.

Vor einer möglichen Expertenreise gibt es auch Sicherheitsbedenken. „Wir sprechen von einem Kernkraftwerk mitten auf einem Schlachtfeld", sagte UN-Sprecher Stephane Dujarric. Selenskyj forderte, die Welt solle sich dafür einsetzen, dass russische Truppen das AKW verlassen. Erst wenn die Ukraine Saporischschja wieder kontrolliere, sei die atomare Sicherheit für ganz Europa gegeben. Das Werk am Strom Dnipro hat sechs 1000-Megawatt-Reaktoren sowjetischer Bauart WWER.

Russische Armee rückt im Donbass weiter vor

Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs versuchten die russischen Truppen im Donbass im Osten des Landes weiter, im Schutz schweren Artilleriefeuers vorzurücken. Auch Kampfflugzeuge seien eingesetzt worden. Die Angriffe richteten sich vor allem gegen die Städte Bachmut und Awdijiwka. Ukrainische Truppen hätten daberi Fortschritte erzielt, teilte der ukrainische Generalstab mit. "Beim Vorstoß in Richtung Horliwka - Sajzewe hatte der Feind teilweise Erfolg." Die Großstadt Horliwka nördlich von Donezk wird bereits seit 2014 von den prorussischen Separatisten kontrolliert. Nun wurden offenbar die stark befestigten ukrainischen Stellungen nördlich der Stadt im Donbass gestürmt.

Kämpfe wurden auch vor Donezk und südlich des Verkehrsknotenpunkts Bachmut gemeldet, der Teil des Verteidigungswalls um den letzten von Kiew kontrollierten Ballungsraum im Donbass, Slowjansk - Kramatorsk, ist. In beiden Fällen halten die Gefechte den ukrainischen Angaben nach an, während sie an anderen Stellen zurückgeschlagen worden seien. Unabhängig lassen sich die Berichte nicht überprüfen. Zwei Mal wurde am Donnerstagabend über der ganzen Ukraine Luftalarm ausgelöst, ohne dass zunächst von Einschlägen russischer Bomben berichtet wurde.

Präsident Selenskyj forderte in seiner Ansprache alle Behördenvertreter zu Verschwiegenheit auf. Sie sollten sich mit Kommentaren zur militärischen Lage zurückhalten, um Operationen nicht zu gefährden. Er dankte für die Militärhilfen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro, die bei einer Konferenz von Unterstützerländern in Kopenhagen zugesagt wurden. Das Geld soll in Waffen und in die Ausbildung ukrainischer Soldaten fließen.

Die Spitzen des Moskauer Sicherheitsapparates berieten am Donnerstag mit den prorussischen Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine über eine weitere Annäherung. Das Treffen im Auftrag von Präsident Wladimir Putin fand in Luhansk statt, wie der Vize-Sekretär des Sicherheitsrates und frühere Präsident Dmitri Medwedew mitteilte. Aus Moskau nahmen unter anderem Innenminister Wladimir Kolokolzew, Geheimdienstchef Alexander Bortnikow und der Vizechef des Präsidialamts, Sergej Kirijenko, teil. Es sei über die Angleichung von Gesetzen der Volksrepubliken Donezk und Luhansk an die russische Gesetzgebung beraten worden, schrieb Medwedew. Auch um den Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur sei es gegangen. (APA/dpa)

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