Chilenen lehnten neue Verfassung mit großer Mehrheit ab
Das Ergebnis des Referendums in Chile ist deutlich. Die Mehrheit der Wähler lehnt die Vorlage für die neue Verfassung ab. Womöglich ging sie vielen zu weit. Die Ablehnung ist auch eine Niederlage für die Regierung.
Santiago de Chile – Die Chilenen haben eine neu ausgearbeitete Verfassung klar abgelehnt. Rund 62 Prozent der Wähler sprachen sich in einem Referendum gegen das neue Grundgesetz aus, wie die Wahlbehörde Chiles nach Auszählung fast aller Stimmen am Sonntagabend (Ortszeit) mitteilte Jüngste Umfragen hatten bereits auf eine Mehrheit gegen den fortschrittlichen Entwurf hingedeutet – in dieser Deutlichkeit kam das Ergebnis aber überraschend.
Mehr als 13 der insgesamt rund 15 Millionen Wahlberechtigten in Chile nahmen nach vorläufigen Daten der Wahlbehörde an der Volksabstimmung teil. Es galt eine Wahlpflicht.
Weiteres Vorgehen noch unklar
Der chilenische Präsident Gabriel Boric, dessen Regierung die Ablehnung einen schweren Schlag versetzt, erkannte den Erfolg der Gegner der neuen Verfassung an. "Das chilenische Volk war mit dem vom Verfassungskonvent vorgelegten Entwurf nicht zufrieden und hat daher beschlossen, ihn an den Urnen klar abzulehnen", sagte Boric in einer Ansprache aus dem Präsidentenpalast. Im Lager der Befürworter waren die Gesichter lang. Auf der Plaza Italia in der Hauptstadt Santiago de Chile, 2019 das Zentrum der sozialen Revolte, herrschte Trauerstimmung.
Wie es nun weitergeht, ob etwa ein komplett neuer Verfassungstext ausgearbeitet werden soll oder die erste Version überarbeitet wird, ist noch unklar. Auf jeden Fall hatte Boric vorgebaut und bereits alle politischen Parteien eingeladen, um am Montag die Weiterführung des verfassungsgebenden Prozesses zu analysieren, wie die chilenische Zeitung La Tercera berichtete.
Text stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur
Das neue Grundgesetz hätte das südamerikanische Land grundlegend verändert. Unter anderem sollte das Recht auf Wohnraum, Gesundheit und Bildung garantiert werden. Außerdem sollten künftig alle Staatsorgane zur Hälfte mit Frauen besetzt werden. Zum ersten Mal wäre in dem Land mit seinen rund 19 Millionen Einwohnern das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Gemeinschaften anerkannt worden. Der aktuelle Text stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet (1973 bis 1990).
Linke Politiker, Aktivisten und Wissenschafter erhofften sich von einer progressiven, sozialen und ökologischen Verfassung eine Signalwirkung für die ganze Welt. Viele Menschen in der konservativen chilenischen Gesellschaft hielten den Text aber für eine linke Utopie und fürchteten, dass sie den wirtschaftlichen Erfolg Chiles, das als eine Art Musterbeispiel in der Region gilt, gefährden könnte. Zudem hatte die rechte Opposition eine massive Gegenkampagne lanciert.
Vertrauen in den Verfassungskonvent nahm ab
Die Ablehnung ist eine Niederlage für die Regierung von Ex-Studentenführer Boric, der im Dezember mit 35 Jahren zum Präsidenten Chiles gewählt worden war und sich eine neue Verfassung auf die Fahne schrieb. Er versprach unter anderem ein öffentliches Bildungs-und Gesundheitswesen nach dem Vorbild des europäischen Sozialstaats. So entwickelte sich die Abstimmung über den Entwurf auch zu einer Abstimmung über die Regierung. Diese gab etwa in der Sicherheitskrise wegen Brandanschlägen und Attacken radikaler Indigener vom Volk der Mapuche in einigen Regionen im Süden des Landes keine gute Figur ab.
Ein neues Grundgesetz war auch eine der von Boric unterstützten Hauptforderungen der Demonstranten, die Ende 2019 massenweise auf die Straße gegangen waren. Vor zwei Jahren stimmten fast 80 Prozent für die Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes.
Die Unterstützung für die Verfassungsgebende Versammlung nahm über die Monate allerdings ab. Unter anderem der Skandal um eine erfundene Krebserkrankung eines prominenten Delegierten trug dazu bei, dass das Vertrauen in den Verfassungskonvent schwand. Vielen in der konservativen chilenischen Gesellschaft ging dessen Entwurf für eine progressive, soziale und ökologische Verfassung vielleicht auch einfach zu weit. (APA/dpa)