Russische Verwaltung zieht sich aus besetzter Stadt Cherson zurück
Ebenso sollen bis zu 60.000 Zivilisten aus der Stadt evakuiert werden. Eine Rückeroberung des AKW in Saporischschja soll russischen Berichten zufolge gescheitert sein.
Kiew (Kyjiw), Moskau, New York – Die pro-russische Verwaltung zieht sich nach eigenen Angaben vollständig aus der südukrainischen Stadt Cherson zurück. Dies gab der Verwaltungschef der Region Cherson, Wladimir Saldo, am Mittwoch bekannt. Bis zu 60.000 Zivilisten sollen in russisch besetztes Gebiet evakuiert werden. Dies sei eine Vorsichtsmaßnahme angesichts der erwarteten Offensive auf die Stadt Cherson. Indes wurde die ukrainische Hauptstadt Kiew erneut Ziel russischer Raketenangriffe.
Zivilisten werden evakuiert
"Ab heute werden alle Regierungsstrukturen der Stadt, die zivile und militärische Verwaltung, alle Ministerien, an das linke Flussufer verlegt", so Saldo gegenüber dem russischen TV-Sender Rossija 24. Die Räumung der Stadt sei eine Vorsichtsmaßnahme. Die russische Armee werde in der Stadt bleiben und gegen die ukrainischen Truppen kämpfen "bis zum Tod". Zivilisten sei es nun für sieben Tage verboten, in die Region einzureisen. 5.000 Menschen wurden in den letzten zwei Tagen bereits evakuiert. Insgesamt sollen "etwa 50.000 bis 60.000" Menschen über den Fluss Dnipro in russisch besetztes Territorium gebracht werden. Dies werde etwa sechs Tage in Anspruch nehmen, so Saldo.
"Der Feind greift gezielt Infrastruktur und Wohngebäude an", sagte der neue Oberbefehlshaber der russischen Truppen in der Ukraine gegenüber Russija 24. Die Ukraine warf dagegen Russland Propaganda vor. "Die Russen versuchen, die Menschen in Cherson mit falschen Newslettern in Angst und Schrecken zu versetzen, wonach unsere Armee die Stadt beschießt, und sie bereiten auch eine Propagandashow mit den Evakuierungen vor", schrieb Andrij Jermak, Chef des ukrainischen Präsidialamtes, auf seinem Telegram-Kanal. "Propaganda wird nicht funktionieren."
Die Sprecherin der Grünen für Außenpolitik und Menschenrechte, Ewa Ernst-Dziedzic, zeigte sich über die Evakuierungen äußerst besorgt. Denn laut ukrainischen Berichten seien seit Kriegsbeginn bereits mehr als 100.000 Kinder aus den besetzten Gebieten nach Russland oder in von Russland dominierte Gebiete überführt worden. Dort würden sie in der Regel offenbar zur Adoption freigegeben, so Ernst-Dziedzic. Das sei eine "massive Verletzung des Völkerrechts, insbesondere von Kinderrechten" und "zutiefst verstörend". Die Staatengemeinschaft dürfe hier nicht länger wegsehen, die UNO müsse unabhängige Untersuchungen einleiten.
Die Stadt Cherson mit ihren einstmals 280.000 Einwohnern liegt in der Nähe der von Moskau annektierten Halbinsel Krim und war die erste größere ukrainische Stadt, die nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar von russischen Streitkräften besetzt wurde. Ende September annektierte Moskau das Gebiet im Süden der Ukraine. Seit einigen Wochen ist es Ziel einer Gegenoffensive der ukrainischen Armee, die immer weiter vorrücken konnte. Die russischen Soldaten auf dem rechten Dnipro-Ufer gelten als weitgehend abgeschnitten. Durch Artillerietreffer seien die Übergänge über den Fluss Dnipro unpassierbar gemacht.
Die ukrainische Hauptstadt Kiew war laut ukrainischen Angaben am Mittwoch erneut Ziel russischer Raketenangriffe. Flugabwehrbatterien hätten "mehrere russische Raketen" über Kiew abgeschossen, erklärte Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko im Messengerdienst Telegram. Der Luftalarm sei noch nicht vorbei, die Luftabwehr sei "immer noch in Aktion", schrieb Klitschko. Die Einwohner sollten in Schutzräumen zu bleiben. In der Region Tschernihiw im Norden des Landes wurden zwei Raketeneinschläge gemeldet. In der gleichnamigen Hauptstadt der Region explodierte eine iranische Drohne.
Rückeroberung von AKW angeblich gescheitert
Ukrainische Streitkräfte sind laut der staatlich kontrollierten russischen Nachrichtenagentur RIA in der Nacht auf Mittwoch mit dem Versuch gescheitert, das Kernkraftwerk Saporischschja zurückzuerobern. "Der Kampf hat mehrere Stunden gedauert, mindestens drei bis dreieinhalb Stunden", zitierte RIA den von Russland eingesetzten Beamten Wladimir Rogow. Die russischen Truppen hätten den Angriff abgewehrt. Laut ukrainischen Angaben habe Russland gegen Mitternacht begonnen, die an das AKW angrenzende Kleinstadt Enerhodar zu beschießen. Zum angeblichen Rückeroberungsversuch des AKW gab es seitens der Ukraine vorerst keine Angaben.
Der Beschuss von Enerhodar habe die ganze Nacht angedauert. Auch die Bezirke Krywyj Rih und Nikopol in der Region Dnipropetrowsk waren betroffen. In Enerhodar wurde das Rathaus schwer beschädigt, wie Fotos dokumentieren. Die Strom- und Wasserversorgung der Stadt sowie zahlreicher weiterer Städte und Dörfer der Region sind von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten, sagte der Leiter der Militärverwaltung der Region, Valentyn Resnitschenko. Bei den Angriffen in der Region Saporischschja seien auch S-300-Raketen eingesetzt worden, die eigentlich zur Luftabwehr verwendet werden.
150.000 in Charkiw nach russischen Angriffen obdachlos
Kiew – In der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw sind den örtlichen Behörden zufolge mehr als 150.000 Einwohner nach monatelangen russischen Angriffen ohne Dach über dem Kopf. "Viele von ihnen haben die Stadt verlassen, sind in die Westukraine oder in andere Gebiete oder ins Ausland gereist", sagte Bürgermeister Ihor Terechow der Agentur Unian zufolge am Mittwoch. Viele seien aber geblieben.
"Da Charkiw vor dem Krieg als Studentenhauptstadt der Ukraine galt, stellen wir Menschen, die nirgendwo leben können, die Wohnheime zur Verfügung und versorgen sie mit allem Nötigen", so Terechow. Die Stadt Charkiw mit - vor dem Krieg - etwa einer Million Einwohnern liegt knapp 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt und leidet seit Kriegsbeginn am 24. Februar besonders unter russischem Beschuss.
Das UNO-Nothilfebüro (OCHA) in Genf hatte Anfang Oktober mitgeteilt, dass in den von der Ukraine zurückeroberten Gebieten um Charkiw Schätzungen zufolge rund 140.000 Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen seien. Die meisten Menschen hätten kaum Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser, Gas, Strom und medizinischer Versorgung.
Terechow berichtete auch von neuen russischen Angriffen. "Acht Raketen wurden in verschiedene Bezirke von Charkiw gefeuert", sagte der Bürgermeister. Unter anderem sei ein Lager mit Hilfsgütern zerstört worden. Angaben aus dem Kriegsgebiet lassen sich kaum unabhängig überprüfen. (dpa)
In Krywyj Rih sei ein zweistöckiges Gebäude infolge des feindlichen Angriffs zerstört worden, teilte Resnitschenko mit. Bis zu 60 Granaten trafen demnach zwei Gemeinden nahe Nikopol. Es wurden keine Verletzten gemeldet, aber einige Wohnhäuser wurden beschädigt. In anderen Gebieten heulten die ganze Nacht hindurch Luftschutzsirenen, aber es wurden keine Angriffe gemeldet.
Seit Montag hat Russland die ukrainische Hauptstadt mehrmals angegriffen und dabei auch die Energieinfrastruktur ins Visier genommen. Fünf Menschen wurden dabei getötet, darunter eine schwangere Frau. "Die Lage ist jetzt im ganzen Land kritisch", hieß es am Dienstag aus dem Präsidialamt in Kiew. Laut Staatschef Selenskyj zerstörte Russland binnen einer Woche 30 Prozent der ukrainischen Elektrizitätswerke. Laut den staatlichen Notfalldiensten waren am Dienstag mehr als 1.100 Orte ohne Strom.
Kamikaze-Drohnen aus dem Iran
Bei ihren Luftangriffen in den vergangenen 24 Stunden setzten die russischen Streitkräfte neben Raketen auch 14 sogenannte Kamikaze-Drohnen aus iranischer Fertigung ein. Davon seien zehn Drohnen abgeschossen wurden, teilte das ukrainische Militär mit. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete den Einsatz iranischer Drohnen durch Russland als Bankrotterklärung. "Der russische Hilferuf an den Iran ist die Anerkennung des militärischen und politischen Bankrotts durch den Kreml", sagte er in seiner Videoansprache am Dienstagabend.
📽️ Video | Zerstörte Energie-Infrastruktur in der Ukraine
Moskau habe jahrzehntelang Milliarden Dollar in seinen militärisch-industriellen Komplex gesteckt, doch schließlich müsse es auf "ziemlich einfache Drohnen und Raketen" aus Teheran setzen, so Selenskyj. Die Waffenlieferungen des Islamischen Gottesstaats an Russland sollen Diplomaten zufolge am Mittwoch Thema im UNO-Sicherheitsrat werden. Die USA, Großbritannien und Frankreich wollten das Thema während einer Sitzung hinter verschlossenen Türen zur Sprache bringen, heißt es. Einzelheiten werden nicht genannt.
Berichte von iranischen Ausbildnern auf der Krim
Die US-Zeitung New York Times berichtete indes, dass der Iran eigene Ausbildner auf die annektierte russische Halbinsel Krim geschickt hat, um dort russische Truppen mit der Drohnenflotte zu helfen. Die Ausbilder operierten von einem russischen Militärstützpunkt auf der Krim aus, wo viele der iranischen Drohnen stationiert seien, hieß es unter Berufung auf Angaben aus US-Regierungskreisen. Dem Bericht zufolge gehören die Ausbildner dem Korps der Islamischen Revolutionsgarden an, einem Teil des iranischen Militärs, der von den USA als terroristische Organisation eingestuft wird. "Es gibt zahlreiche Beweise dafür, dass iranische Drohnen für Angriffe auf ukrainische Zivilisten und militärische Ziele eingesetzt wurden, obwohl der Iran weiterhin schamlos über seine Beteiligung lügt", sagte ein Sprecher des US-Außenministeriums zu dem Bericht.
Die Drohnenangriffe sind äußerst umstritten, weil laut humanitärem Völkerrecht Direktangriffe auf die Zivilbevölkerung oder auf zivile Objekte verboten sind. Es besteht außerdem "die Pflicht, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um Tote und Verwundete unter der Zivilbevölkerung und die Beschädigung ziviler Objekte zu vermeiden oder auf ein Mindestmaß zu beschränken".
Weiteres Personal des AKW Saporischschja festgenommen
Die Waffenlieferungen des Islamischen Gottesstaats an Russland sollen Diplomaten zufolge am Mittwoch Thema im UNO-Sicherheitsrat werden. Die USA, Großbritannien und Frankreich wollten das Thema während einer Sitzung hinter verschlossenen Türen zur Sprache bringen, heißt es. Einzelheiten werden nicht genannt.
Die Internationale Atomenergieagentur (IAEA) berichtete indes, dass weiteres Personal des ukrainischen AKW Saporischschja festgenommen worden sei. Konkret gehe es um einen stellvertretenden Leiter des AKWs und zwei weitere Mitarbeiter, teilte die UNO-Behörde am Dienstagabend in Wien mit. Während der Manager wieder freigelassen worden sei, seien die anderen noch nicht in Freiheit. Zuvor war der Chef der Anlage vorübergehend von russischer Seite festgehalten worden. Er kam Anfang Oktober wieder frei. IAEA-Chef Rafael Grossi sagte der Nachrichtenagenture Reuters, dass er demnächst wieder zu Verhandlungen über die Einrichtung einer Sicherheitszone um das von Russland besetzte größte europäische AKW reisen werde. (APA/dpa/Reuters)
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