Frankfurter Buchmesse: Die Zirkuskuppel des Diskurses
Die großen Konflikte und Krisen, aber auch die kleineren Risse im gesellschaftlichen Gefüge haben die heurige Frankfurter Buchmesse geprägt. Am Sonntag geht sie zu Ende.
Von Joachim Leitner
Frankfurt – Am Freitag, also einen Tag früher als in früheren Auflagen, begannen die BesucherInnentage der Frankfurter Buchmesse. An den Tagen davor war der größte Branchentreff des Buchhandels vornehmlich für Fachpublikum geöffnet. In vorpandemischen Zeiten lockte die Messe mehr als 300.000 BesucherInnen an. Heuer, hört man, sei auch etwas mehr als die Hälfte ein mehr als zufriedenstellendes Ergebnis.
Mit dem großen Publikum kommen dann auch die ganz großen Namen auf die Messe. Nicht alle bringt man vordergründig mit Büchern in Verbindung. Die Schauspielerin Diane Kruger zum Beispiel. Sie präsentiert heute das von ihr verfasste Kinderbuch „Dein Name“.
Bereits am Donnerstag wurde eine Videobotschaft des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in die Versammlung der Europäischen Verlegervereinigung (FEP) übertragen. Er lud AutorInnen und Verlage in die Ukraine ein. „Unwissende Menschen seien leichter zu manipulieren“, sagte Selenskyj. Nur so lasse sich erklären, dass es in Europa immer noch Fürsprecher für die terroristische Politik Russlands, aber auch des Irans gebe. Selenskyj wirft dem Iran die Lieferung von Kampfdrohnen an Russland vor, die nun zivile Infrastruktur und die Energieversorgung der Ukraine beschießen. Russland und der Iran sind heuer nicht auf der Messe vertreten. „In der Kulturwelt sind sie kaum noch präsent und zugleich dort präsenter, wo alles zerstört wird“, sagte Selenskyj: „Anstatt Kultur zu exportieren, exportieren sie den Tod.“
Selenskyjs Frau, Olena Selenska, wird heute für eine Podiumsdiskussion der Postille Brigitte persönlich nach Frankfurt kommen.
Ukrainische Verlage stellen ihre Programme auf der Messe an einem etwa 100 Quadratmeter großen Stand vor. Ein Lichtwürfel leuchtet dort immer dann auf, wenn es in der Ukraine Bombenalarm gibt. An zahlreichen anderen Länderständen – etwa dem polnischen und dem georgischen – gibt es sichtbare Solidaritätsbekundungen. Autor Andrej Kurkow spricht auf dem Blauen Sofa des ZDF eindrücklich über den Alltag in der Ukraine. Er sollte eigentlich an seinem neuen Roman schreiben, sagt er. „Aber Romanschreiben heißt die Realität aussperren – das geht nicht.“ Schon am ersten Messetag sorgte die Künstlerin Maria Kulikovska für Aufsehen: Sie legte sich im weitläufigen Innenhof des Messegeländes auf den Boden – und bedeckte sich mit der ukrainischen Flagge. In St. Petersburg hat sie für eine ähnliche Performance keine Genehmigung gekriegt, erzählt sie danach. Hingelegt habe sie sich dort trotzdem – „wie eine Erschossene“.
Doch nicht nur der Krieg um die Ukraine – der, so der renommierte Historiker Karl Schlögel gestern bei einer Veranstaltung, „manche Artisten in der Zirkuskuppel des deutschen Diskurses zu wunderlichen Volten zwingt“ – ist auf der Messe Thema. Der neue PEN Berlin etwa diskutierte intensiv über Gegenwart und Zukunft des Iran. Dort werden die Proteste gegen das Regime immer lauter. „Es ist erstmals ein Querschnitt durch die gesamte Bevölkerung, der auf die Straße geht“, sagt die deutsch-iranische Journalistin Natalie Amiri.
Wenige Meter weiter sitzt Kim de l’Horizon auf der ARD-Bühne. Auf der Messe wird de l’Horizon gefeiert. Im Internet wird die nicht-binäre Person bedroht. „Ich werde mir eine Rüstung gegen Internethetze zulegen müssen“, sagt de l’Horizon. Und vielleicht auch bald eine Perücke. Die Frisur – nach Gewinn des Deutschen Buchpreises für „Blutbuch“ rasierte sich de l’Horizon aus Solidarität mit den iranischen Frauen den Schädel – soll vorerst bleiben, wie sie ist.
Harald Welzer und Richard David Precht tragen ihr Haupthaar vergleichsweise lang. Mit ihrem Debatten-Buch „Die vierte Gewalt“ stehen sie derzeit an der Spitze der Sachbuchbestsellerlisten und sind auch auf der Messe beinahe allgegenwärtig. Kein Tag ohne Diskussion darüber. Kaum ein Medium ohne Interview mit den beiden. Gestern etwa debattierten Welzer und Precht mit den Medienjournalisten Stefan Niggemeier und Daniel Bouhs über ihre These, dass die „veröffentlichte Medienmeinung“ quer zu einer etwaigen Mehrheitsmeinung stehe. Das ARD-Forum war beinahe bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Diskussion war zunächst an-, dann etwas aufgeregt. Neue Erkenntnisse waren rar. Niggemeier fasste es im Anschluss auf Twitter recht treffend zusammen: „Uff!“