Nach russischem Rückzug: Leichen mit Folterspuren in Cherson gefunden
Erneut gingen Raketenangriffe auf ukrainische Städte nieder, im ganzen Land gab es Luftalarm. General Robert Brieger glaubt indes nicht an einen militärischen Sieg der Ukraine.
Kiew, Moskau – Rund eine Woche nach dem Abzug der russischen Truppen aus der südukrainischen Region Cherson haben Ermittler nach Angaben der Regierung dort 63 Leichen mit Folterspuren entdeckt. Die Untersuchungen seien aber erst am Anfang, sagte der ukrainische Innenminister Denys Monastyrskyj am Donnerstag laut der heimischen Nachrichtenagentur Interfax Ukraine. Unterdessen sind nach Behördenangaben mehrere Städte der Ukraine erneut mit russischen Raketen beschossen worden.
"Bisher sind in der Region Cherson 63 Leichen gefunden worden", sagte Monastyrskyj. "Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Suche gerade erst begonnen hat und noch viele weitere Folterkammern und Grabstätten entdeckt werden."
In Cherson hätten die Strafverfolgungsbehörden 436 Fälle von Kriegsverbrechen während der russischen Besatzung aufgedeckt. Elf Haftorte seien gefunden worden, darunter vier, in denen gefoltert worden sei. "Die Ermittler sind dabei, diese zu untersuchen und jeden Fall von Folter festzuhalten. Auch die Leichen der Getöteten werden exhumiert", sagte Monastyrskyj.
Ein Vertreter der Staatsanwaltschaft von Cherson sagte der "New York Times", dass Zeugenaussagen zu 800 Verhaftungen durch russische Truppen in der Region gesammelt worden seien. Die häufigsten Misshandlungen seien Elektroschocks, Schläge mit Plastik- oder Gummiknüppeln und das Abklemmen des Atemschlauchs einer Gasmaske, die Gefangenen über den Kopf gezogen worden sei.
Russland bestreitet Zivilisten ins Visier zu nehmen
Die Ukraine und internationale Ermittler werfen Russland Kriegsverbrechen in besetzten Gebieten vor. Russland bestreitet, dass seine Truppen Zivilisten ins Visier nehmen und Gräueltaten begangen haben. In anderen Gebieten, die zuvor von russischen Truppen besetzt waren, wurden Massengräber gefunden, darunter auch einige mit Leichen von Zivilisten, die Anzeichen von Folter aufwiesen.
Unter Druck der ukrainischen Armee hatten die russischen Besatzer die Gebietshauptstadt Cherson Anfang November geräumt und sich auf das südliche Ufer des Flusses Dnipro zurückgezogen. Viele Straßen und Gebäude, vor allem das regionale Polizeihauptquartier, seien vermint zurückgelassen worden, sagte der ukrainische Innenminister. Bei der Entschärfung der Bomben seien bereits ukrainische Kampfmittelräumer getötet oder verletzt worden.
Luftalarm im ganzen Land, Raketen auf Städte
Mehrere Städte der Ukraine sind nach Behördenangaben erneut mit russischen Raketen beschossen worden. Im gesamten Land galt am Donnerstag Luftalarm. In der zentralukrainischen Großstadt Dnipro seien zwei Infrastrukturobjekte getroffen worden, teilte die Gebietsverwaltung mit. 14 Menschen seien verletzt worden. Präsident Wolodymyr Selenskyj verbreitete auf Telegram ein Augenzeugenvideo, das zeigen soll, wie eine Rakete im Straßenverkehr von Dnipro einschlägt. Regierungechef Denys Schmyhal sagte nach Medienberichten, der Angriff habe einem Betrieb der Gasförderung sowie dem Raketenbaukonzern Piwdenmasch gegolten.
Über der Hauptstadt Kiew waren Explosionen zu hören, die von Flugabwehrfeuer stammten. Vier russische Marschflugkörper seien im Anflug auf die Stadt abgeschossen worden, teilte die Stadtverwaltung nach Ende des Luftalarms mit. Auch fünf Kampfdrohnen des iranischen Bautyps Schahed-136 seien abgefangen worden, einige von ihnen über dem dem Stausee nördlich der Hauptstadt.
In der Stadt Isjum im Osten wurde ein Objekt der lebensnotwendigen Infrastruktur getroffen, wie der Gebietsgouverneur von Charkiw, Oleh Synjehubow, mitteilte. Beschuss wurde auch aus der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer gemeldet. Bei nächtlichem Beschuss auf die Stadt Wilnjansk im Gebiet Saporischschja wurden mindestens vier Menschen getötet. Am Dienstag hatte Russland mit mehr als 90 Raketen und Marschflugkörpern ukrainische Infrastruktur beschossen. Es war der größte derartige Angriff in fast neun Monaten Krieg.
Brieger glaubt nicht an militärische Lösung
Dass angesichts der massiven Angriffe eine Flugverbotszone eingerichtet wird, schloss General Robert Brieger, Vorsitzender im EU-Militärausschusses, aus. "Eine Flugverbotszone müsste ja mit aktiven Mitteln, also Kampfflugzeugen geschützt werden", sagte Brieger am Mittwochabend in der ZiB2. "Eine solche Maßnahme würde das Eingreifen, das aktive Eingreifen westlicher Streitkräfte in den Konflikt bedeuten und damit eine Ausweitung, deren Auswirkungen, glaube ich, nicht im Interesse irgendeines Entscheidungsträgers sein kann." Brieger berichtete außerdem, dass es zwischen Brüssel und Moskau keine Kommunikation auf militärischer Ebene gebe.
Der frühere österreichische Generalstabschef schloss sich auch der Einschätzung von US-General Mark Milley an, wonach ein militärischer Sieg der Ukraine nicht sehr wahrscheinlich sei, es aber die Möglichkeit einer politischen Lösung gebe. "Ja, ich denke, dass General Milley hier zuzustimmen ist im Großen und Ganzen." Russland verfüge über sehr große Ressourcen an Material, wenngleich die Moral der Truppe schlecht sei. In der Ukraine sei es umgekehrt, da sei eine sehr hohe Moral bei Bevölkerung und Militär zu verzeichnen, aber die materielle Komponente sei sehr stark von der Unterstützung des Westens abhängig. "Das heißt, eine vollständige Wiedererlangung der ukrainischen Souveränität einschließlich der Krim mit militärischen Mitteln, das halte ich für ein sehr hohes Ziel, dessen Verwirklichung mehr als unsicher ist." Er glaube, "dass letztlich Politik und Diplomatie Wege und Mittel führen müssen, um beide Seiten zu einer gewissen Annäherung zu bringen".
Die Ukraine habe zwar zuletzt enorme Erfolge bei der Verteidigung gegen die russische Offensive verzeichnet, hatte Milley am Mittwoch (Ortszeit) in Washington mit Blick auf jüngste russische Verluste gesagt. Aber jüngst von russischer Besetzung befreite Gebiete wie Cherson und Charkiw seien klein im Vergleich zu der Herausforderung, die russischen Streitkräfte aus der gesamten Ukraine vertreiben zu wollen, sagte Milley. "Das wird nicht in den nächsten paar Wochen passieren, außer, die russische Armee bricht komplett zusammen, was unwahrscheinlich ist." (APA/Reuters)
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