Nachgefragt bei Ingrid Brodnig und Armin Wolf: Wie geht es mit Twitter weiter?
Die Übernahme des Kurznachrichtendienstes Twitter durch den Milliardär Elon Musk verunsichert Werbekunden und User. Könnte es sich bald ausgetwittert haben? Die TT hat nachgefragt.
Wien – Elon Musk hat Twitter gekauft – um 44 Milliarden Dollar. Seither fuhrwerkt der reichste Mann der Welt mit und auf dem Kurz-Nachrichtendienst. Nach der Übernahme Ende Oktober setzte er den dortigen Chef, den Finanzvorstand und die Ober-Justiziarin ab. Er ist der Boss, leitet damit fünf Firmen, darunter den Elektroauto-Bauer Tesla und die Weltraumfirma SpaceX.
3700 Leute – die Hälfte der Twitter-Belegschaft – schmiss er hinaus. Einige von ihnen bat er zurückzukehren. Und er forderte seine Angestellten auf, „lange Arbeitszeiten mit hoher Intensität“ zu akzeptieren – oder mit einer Abfindung zu gehen. Am 6. November schrieb Musk: Twitteranten, die parodistische Accounts nicht als solche kennzeichnen, würden von der Plattform geworfen. Und er gab das Ziel aus, Twitter zur „genauesten Informationsquelle“ zu machen. Er wolle etwa die Verhaltensregeln lockern. Die Folge seiner Handhabe mit dem neuen „Spielzeug“ (Armin Wolf): Konzerne wie Volkswagen und United Airlines ließen wissen, keine Anzeigen mehr zu schalten – wobei Reklame die Haupteinnahmequelle von Twitter ist. Musk, der selbsternannte „Absolutist der Meinungsfreiheit“, warb daraufhin um Vertrauen. Er werde die Plattform zu einer „Kraft der Wahrheit“ machen, Fake-Accounts stoppen. In einer Betriebsversammlung schloss er jedoch nicht aus, dass Twitter pleitegeht.
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Brodnig sieht großes Risiko für Musk
„Ein riesiges Gamble“ Musks ortet die Digital-Expertin und Autorin Ingrid Brodnig im TT-Gespräch, auf dessen Umtriebe verweisend. „Das ist gefährlich.“ Dahingehend, dass die Stimmung kippe, sich Leute einen anderen Kanal suchten. Brodnig verweist auf die USA: „Je mehr sich Musk pro-republikanisch darstellt, desto unattraktiver wird Twitter für Liberale. Das ist riskant für ihn.“ Ebenso, dass Prominente wie Klima-Aktivistin Greta Thunberg, Schauspieler Stephen Fry und Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman zu Mastodon wechseln. Und angesichts dessen, dass Musk jetzt Sperren für bestimmte Nutzer aufheben will, befindet Brodnig: „Man muss damit rechnen, dass viele rechte und rechtsextreme Profile wieder aktiv sein werden.“ Das sei „eine katastrophale Nachricht – für uns alle, aber auch für Menschen, die für rechte Communitys ein Feindbild sind“.
Hiesige Twitterantinnen und Twitteranten sind ebenfalls alarmiert, verunsichert. Manche erwägen, diese Plattform zu verlassen, manche haben das getan. Einige verbal wehmütig – weil sie nicht nur Nachrichten konsumieren, sondern sich auch mit Leuten ausgetauscht haben, die gar zu Kumpeln geworden sind. Zuspruch gibt es für Leidende, Hilfe bei Handwerkereien, Kochtipps, Spendenaufrufe, humorige Konversationen, (Katzen-)Bilder, die erfreuen. „Weil Menschen bewusst geworden ist, dass Musk die Seite umbringen kann, sind viele melancholisch geworden“, sagt Brodnig. „Sie erinnern sich an das Schöne von und auf Twitter.“
Dieser Kanal hat sich schon vor Musk verändert. „Zuerst war Twitter ein Mini-Ding für Internet-Affine, für eine Blase. Es wurde zu einem Medien-Tool, dann zu einem politischen Austausch- und Streitort. Der Ton wurde härter“, konstatiert Brodnig. Zusehends taten sich Aggressivlinge und Rechtsextreme um, großteils versteckt hinter anonymen Accounts – mit Fantasienamen, keinem Bild. Corona-Leugner und -Verharmloser vernetzten sich, propagierten ihre kruden Thesen. Bei Widerspruch gab es „Shitstorms“. Belastend für die Adressaten.
Was die hiesige Internet-Nutzung anlangt, ist Twitter laut dem Digital News Report für Österreich unter ferner liefen. „Es ist ein Zwerg unter den sozialen Netzwerken, aber ein Riese in der Medienberichterstattung“, sagt Brodnig. Auch wer nicht auf Twitter sei, bekomme Botschaften mit – weil Tweets andernorts zitiert würden: „Viele von Trump wurden zur Schlagzeile.“ Weltweit äußern sich viele Politiker zuvorderst auf diesem Netzwerk. So hat der Bundespräsident mitgeteilt, dass er Corona-positiv ist. Wird Twitter überleben? „Das weiß ich nicht“, antwortet Brodnig. Dass darüber überhaupt diskutiert werde, sei eine enorme Fehlleistung von Elon Musk.
„Der wichtigste Info-Kanal“: Das sagt ZiB2-Moderator Armin Wolf
Sie haben getwittert: „Elon Musk nimmt das Motto ,Move fast and break things‘ auf Twitter offenbar wörtlich. Unglaublich, wie sich jemand um 44 Milliarden (!) ein Spielzeug kauft und es binnen Wochen auf offener Bühne zerdeppert.“ Inwiefern zerdeppert Musk diesen Kanal?
Armin Wolf: Bis jetzt hat Musk nach Medienberichten rund drei Viertel der Twitter-Belegschaft gefeuert oder verloren. Menschen, die sich da auskennen, sagen, dass man das relativ rasch an der technischen Performance von Twitter sehen wird. Dazu das Desaster mit dem Verkauf der „blauen Hakerln“, die ja eigentlich zeigen sollten, dass Accounts echt sind. Es sind sofort Hunderttausende Fake-Accounts mit prominenten Namen aufgetaucht; und es gibt offenbar kaum noch Content-Moderation von Hass-Postings.
Was hat sich Ihrer Ansicht nach durch Musks Übernahme auf Twitter verändert? Was könnte sich noch ändern?
Wolf: Wenn Musk wirklich völlige „Redefreiheit“ durchsetzen will, wird man auf Twitter noch viel mehr Rassismus, Sexismus, Hass und Hetze sehen. Das war schon bisher ein Problem. Aber ohne Content-Moderation wäre das noch sehr viel schlimmer – und das werden sich viele vernünftige Menschen nicht mehr antun wollen. Falls er – wie mal angekündigt – auch die Blockier-Funktion abschaffen sollte, würde ich es wahrscheinlich bleiben lassen. Dann wäre Twitter nicht mehr auszuhalten.
Viele verlieren momentan viele Follower, weil viele User Twitter verlassen, sich teils mit Pathos verabschieden, ihren Twitterverlauf archivieren. Ist das berechtigt – oder eine Art Selbstläufer, bei dem die eine den anderen mitzieht?
Wolf: Das müssen wirklich alle für sich entscheiden. Ich bleibe mal, solange es technisch funktioniert, es noch genügend interessante Accounts gibt, von denen ich etwas lerne – und solange ich anonyme Aggro-Trolle wegblocken kann.
Ist Mastodon ein guter Ersatz? Nutzen Sie diesen Kanal schon bzw. haben Sie es vor?
Wolf: Ich habe mich noch nicht sehr damit beschäftigt. Noch nütze ich Twitter. Und für zwei Kanäle fehlt mir die Zeit.
Was würde das Aus für Twitter nachrichtentechnisch bedeuten? Es ist ein wesentlicher Kanal für Journalisten und Experten. Viele Politiker weltweit veröffentlichen Infos zuerst auf Twitter, etwa der Bundespräsident, dass er Corona-positiv ist.
Wolf: Für mich ist Twitter seit Jahren – trotz aller Mängel – der mit Abstand wichtigste Info-Kanal. Ich folge da etwa 700 sorgsam ausgewählten Accounts, von denen ich sehr viele Dinge lerne, für die ich sonst aufwändig Fachzeitschriften besorgen müsste. Und bei aktuellen Ereignissen ist Twitter unglaublich schnell, was in meinem Job schon sehr hilfreich ist. Die Auftritte von Politikerinnen und Politikern sind da noch das Uninteressanteste. Die könnten ja auch wieder Presseaussendungen verschicken.
Das Gespräch führte Karin Leitner