Poker, Pornos und verschwundene Milliarden: Prozess im Wirecard-Krimi startet
Zweieinhalb Jahre nach dem Kollaps von Wirecard beginnt in München der Prozess um den mutmaßlich größten Betrugsfall der deutschen Nachkriegsgeschichte.
München, Wien – Zweieinhalb Jahre nach der spektakulären Pleite des Finanzkonzerns Wirecard beginnt der Mammut-Strafprozess gegen dessen ehemaligen Chef, den Österreicher Markus Braun. In einem der größten Finanzskandale Deutschlands müssen sich Braun und zwei weitere frühere Manager des einstigen Dax-Konzerns ab Donnerstag vor dem Landgericht München I verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Untreue und gewerbsmäßigen Bandenbetrug vor.
Laut Anklage sollen die Manager den eigentlich unprofitablen Zahlungsdienstleister mit erfundenen Milliardenumsätzen schöngerechnet haben, um Anleger und Kreditgeber zu täuschen. Diese haben eine zweistellige Milliardensumme verloren. Braun hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Im Falle einer Verurteilung drohen den Angeklagten bis zu 15 Jahren Haft. Mit einem Urteil wird frühestens im Jahr 2024 gerechnet.
📽️ Video | Wirecard: Prozess gegen Ex-Chef Braun gestartet
Der Aufstieg der Finanztechnologie-Firma aus dem Münchner Vorort Aschheim verlief fast so aufsehenerregend wie deren Fall. Jahrelang hatte sich Wirecard als Gewinner des Internethandels präsentiert und boomende Geschäfte mit der Abwicklung von Online-Zahlungen ausgewiesen. Die von Braun verkündete Wachstums-Story begeisterte Kleinanleger wie Großinvestoren. 2018 löste Wirecard die Commerzbank im Leitindex Dax ab. Zeitweise war das Unternehmen an der Börse mehr wert als die Deutsche Bank und erwog sogar deren Übernahme. Zwar wurde an Finanzmärkten und in Medien wiederholt der Vorwurf von Unregelmäßigkeiten laut, doch Wirtschaftsprüfer, Finanzaufsicht und Strafverfolger sahen lange keinen Grund einzuschreiten.
Im Juni 2020 musste Wirecard jedoch einräumen, dass auf den Firmenkonten 1,9 Milliarden Euro fehlten. Das löste ein wirtschaftliches und ein politisches Beben aus. Der Aktienkurs stürzte ab, der Konzern rutschte als erstes Dax-Unternehmen in die Insolvenz, Braun trat zurück und kam in Untersuchungshaft. In einem Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages wurde das Versagen mehrerer Aufsichtsstellen deutlich. Bei der Aufsichtsbehörde BaFin, bei der Bilanzpolizei DPR und bei der Wirtschaftsprüfung EY wurden führende Köpfe ausgetauscht. Der Bund reformierte die Finanzaufsicht.
Anleger getäuscht
Wirecard-Prozess: Ex-Chef Braun ab Donnerstag vor Gericht
Die Staatsanwaltschaft München und eine Sonderkommission der Polizei durchleuchteten das globale Firmengeflecht um Wirecard in einem ihrer umfangreichsten Ermittlungsverfahren. Die Beamten führten 450 Vernehmungen durch, durchsuchten mehr als 40 Objekte in Deutschland und werteten 42 Terabyte an Daten aus. Weltweit wurden Behörden in mehr als zwei Dutzend Ländern eingeschaltet – von der Schweiz bis Singapur, von Österreich bis zu den Philippinen, von Großbritannien bis Russland. Die Ermittler trugen ihre Ergebnisse in mehr als 700 Aktenordnern zusammen.
Der Kernvorwurf in der 474 Seiten starken Anklageschrift dreht sich um Zahlungsdienste, deren Abwicklung Wirecard an andere Firmen ausgelagert hatte. Grund der Auslagerung sollen u. a. anrüchige Geschäfte mit Pornographie und Glücksspiel gewesen sein. Doch die angeblich milliardenschweren Erlöse aus dem Geschäft mit Drittpartnern hätten tatsächlich nicht existiert, ist die Staatsanwaltschaft überzeugt. Dementsprechend seien Wirecard-Bilanzen und Geschäftsprognosen seit 2015 falsch gewesen. Damit habe das Management Anleger und Banken getäuscht. Außerdem hätten Braun und andere Top-Manager Hunderte Millionen von Euro für dubiose Zwecke aus Wirecard-Kassen abgezweigt.
Braun hingegen sieht sich als Opfer einer Bande, die hinter seinem Rücken Milliardensummen veruntreut habe. Brauns Vorwurf zielt offenbar auf seinen ehemaligen, ebenfalls aus Österreich stammenden Vorstandskollegen Jan Marsalek ab, der für das angeblich erfolgreiche Asien-Geschäft verantwortlich war (siehe Artikel unten). Braun vertritt im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft die Ansicht, dass die Drittpartner-Umsätze existiert hätten.
Der dritte Angeklagte, der Ex-Wirecard-Bilanzchef Stephan von Erffa, ist auf freiem Fuß. Er hatte im Bundestags-Untersuchungsausschuss um Entschuldigung für die Vorgänge bei Wirecard gebeten, will sich aber derzeit nicht zu der Anklage äußern.
In dem Gerichtssaal im Gefängnis München-Stadelheim sind vorläufig 100 Verhandlungstermine bis Ende kommenden Jahres angesetzt. Zum Auftakt am Donnerstag werden die Verlesung der Anklage und eine erste Stellungnahme der Verteidigung erwartet. (TT, APA, Reuters)
Phantom auf der Flucht
Er ist das Phantom im Wirecard-Komplex: Der frühere Wirecard-Vorstand Jan Marsalek versteckt sich bis heute vor den Ermittlern. Der 42-Jährige ist der Player, der den Wirecard-Skandal filmreif machte.
Elegante Kleidung, rasierter Kopf: Fotos von Jan Marsalek aus der Zeit als angeblich tadelloser Geschäftsmann gibt es einige. Der 1980 geborene Wiener hatte die Schule abgebrochen und eine Computerfirma gegründet. Im Jahr 2000 heuerte er bei Wirecard an, das erstes Geld mit Bezahlsystemen für Pornoseiten im Netz und Online-Glücksspiele verdiente.
Marsalek stieg innerhalb weniger Jahre zu einer der wichtigsten Führungspersonen auf, gefördert von Konzernchef Markus Braun. Seine ehemaligen Mitarbeiter beschreiben ihn als Mann, dem „die Welt zu Füßen lag“. Eine glatte Fassade – den echten Marsalek scheint kaum jemand zu kennen. Beruf und Privates trennte er penibel, allerdings zeigte er ein paar auffällige Besonderheiten. Er mied auf Geschäftsreisen die USA, da er dort Strafverfahren fürchtete. Für Kommunikation nutzte er bevorzugt den verschlüsselten Dienst Telegram und zahlte bevorzugt mit Cash. Marsalek pflegte Kontakte, indem er hochkarätige Gäste zu sich nach Hause in eine aufwändig renovierte Villa einlud, direkt gegenüber des russischen Konsulats in München. Wie aus einem der AFP vorliegenden österreichischen Ermittlungsdokument hervorgeht, bezahlte Marsalek ab 2015 Detektive für geheime Infos über eine Reihe von Persönlichkeiten. Prahlerisch zeigte er bei einem Treffen mit Geschäftsleuten ein Geheimdokument mit der Formel des Nervengifts Nowitschok. An anderer Stelle rühmte er sich mit Kontakten zur paramilitärischen Gruppe Wagner.
Als er bei Wirecard als Betrüger aufflog und entlassen wurde, verließ er einen Tag später, am 18. Juni 2020, Deutschland. Der Mann, der über acht Pässe verfügte, täuschte eine Ausreise auf die Philippinen vor. Wie sich herausstellte, charterte Marsalek aber tatsächlich einen Privatjet und flog von Österreich nach Weißrussland und von dort weiter nach Russland. Marsaleks Fluchthelfer sollen der frühere FPÖ-Abgeordnete Thomas Schellenbacher und ein Ex-BVT-Mitarbeiter gewesen sein.
Geschützt vom russischen Geheimdienst soll er heute in Moskau leben. Der Wirecard-Prozess beginnt nun ohne Marsalek. Wird er gefasst, drohen ihm in Deutschland viele Jahre Gefängnis.
📽️ Video | Pfeifer (ORF) zum Wirecard-Prozess:
Der tiefe Fall des schweigsamen Markus Braun
Wird Markus Braun beim bevorstehenden Prozess über den Wirecard-Skandal auspacken? Bislang schweigt der frühere Chef des insolventen Bezahldienstleisters beharrlich. Egal, ob Braun spricht oder nicht – der Prozess gegen ihn und zwei frühere Manager wird sich zentral auch um das Miteinander bei Wirecard drehen. Denn dass in dem Konzern lange im Verborgenen so betrügerisch agiert werden konnte, wird auch dem 18 Jahre an der Spitze stehenden Braun und dessen Führung zugeschrieben. Von einem System nach dem Prinzip „teile und herrsche“ berichtete die Münchner Staatsanwaltschaft, von einem „militärisch-kameradschaftlichen Korpsgeist und Treueschwüren“ sowie von psychischem Druck. Hinter all dem soll der frühere Vorstandschef mit seiner als kühl beschriebenen Art der Menschenführung stehen.
Für Braun steht jetzt das dritte Weihnachtsfest an, das er in U-Haft verbringen muss. 2020 ließ ihn die Staatsanwaltschaft festnehmen. Über Braun sind bis heute nur grobe Züge seiner Vita bekannt, er legte stets hohen Wert auf Diskretion. Braun kam 1969 in Wien zur Welt. Nach München kam der studierte Wirtschaftsinformatiker zum Berater KPMG, bevor er bei der InfoGenie AG landete. Das mit kostenpflichtigen 0190er-Nummern gestartete Unternehmen war eine Geburt der New Economy, geriet mit dem Platzen der Internetblase aber in die Krise.
Braun behauptete sich als Krisenmanager bei InfoGenie und blieb auch, als dieses mit Wire Card fusionierte und schließlich zu Wirecard wurde. Mit Anfang 30 wurde er Vorstandschef. Mit der Zahlungsabwicklung für Pornoseiten und Co. konnte sich das Unternehmen etablieren. Später wollte er den Dax-Konzern als sauberen Vorzeigekonzern darstellen. Persönlich unterhielt er enge Kontakte in die Politik, den mittlerweile unter Korruptionsverdacht stehenden früheren österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) beriet er, beide duzten sich. Ob der frühere Wirecard-Chef auspacken wird, dürfte sich zu Beginn des Verfahrens zeigen. (TT, APA, AFP)