100. Jahrestag

Was von der UdSSR blieb: Politische Verfolgung und Großmachtdenken bis heute

UdSSR-Begründer Wladimir Iljitsch Lenin, KPdSU-Chef und Diktator Josef Stalin, UdSSR-Präsident Michail Gorbatschow und die russischen Präsidenten Boris Jelzin und Wladimir Putin als Matroschkas (v. r.).
© APA

Vor exakt 100 Jahren wurde die Sowjetunion gegründet, im Dezember vor 31 Jahren aufgelöst. Doch einiges wirkt bis heute nach.

Moskau – Zwischen der heute vor 100 Jahren gegründeten Sowjetunion und dem gegenwärtigen Russland gibt es etliche Parallelen, sagt der Historiker Wolfgang Mueller. Dass Kreml-Chef Wladimir Putin den Zerfall der „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ (UdSSR) einmal als „größte geopolitische Katastrophe“ bezeichnet hat, erklärt sich der Professor für Russische Geschichte an der Uni Wien mit der „Sichtweise eines Menschen, der in der Sowjetunion sozialisiert worden und ein Teil ihres Repressions- und Überwachungsmechanismus, nämlich des KGB, gewesen ist“.

Die Sowjetunion werde von vielen seiner Generation als Inbegriff der Stabilität gesehen sowie „mit bescheidenem Wohlstand und imperialer Machtentfaltung assoziiert“. Sowohl im Zarenreich als auch in der Sowjetunion bestand laut Mueller ein „imperiales Staatsgebilde“ und damit verbundenes „Großmachtdenken“. Die in der Orthodoxie und im Nationalismus begründete binäre Weltsicht, die zwischen dem Wir und dem Westen schied, „wurde durch die sowjetische Ideologie massiv verschärft“. Dem späten Zarenreich sowie der UdSSR habe außerdem eine „Tendenz zu Überwachung und zum Geheimdienststaat innegewohnt. Phänomene der Ära Putin wie die Verfolgung von politischen Flüchtlingen kann man bis in die Sowjetunion zurückverfolgen.“

Eine weitere Parallele, deren politische Auswirkungen heute wieder zu sehen ist, sei die „Spaltung zwischen politischer Elite und der Bevölkerung“, ergänzt Mueller. Eine politische Beteiligung breiter Bevölkerungskreise habe weder im Zarenreich noch in der Sowjetunion stattgefunden. „Sehr oft ist vom Staat Gewalt und unglaubliches Leid ausgegangen.“ Viele Menschen wollten daher am liebsten in Ruhe gelassen werden. Auch diese Erscheinung sei bis in die Gegenwart verfolgbar.

Der „Blutzoll“ der Sowjetunion sei „massiv“ gewesen, erinnert Mueller. Allein die Schaffung des Staatsgebildes im Bürgerkrieg habe fünf Millionen Menschenleben gefordert. Weitere zehn bis 20 Millionen Tote habe der Stalinismus verursacht. Fünf bis acht Millionen Menschen – vor allem Ukrainer, aber auch Kasachen – starben durch die politisch herbeigeführte Hungersnot 1932/33 (Holodomor).

Bis heute sei das Erbe sichtbar. Mueller verweist auf das weit verbreitete Großmachtdenken, „wonach man es ganz natürlich gefunden hat, dass man irgendwo einmarschiert oder einen Aufstand niederschlägt“. Der Historiker nennt den Volksaufstand in Ungarn 1956, den Prager Frühling 1968 oder den Einmarsch in Afghanistan 1979. Aufgrund der eigenen Erfahrung von Diktatur und Repression gab es von den Menschen wenig Protest.

Das Erbe der Sowjetunion beurteilt Mueller dennoch als „ambivalent“. Für viele Regionen habe die Sowjetunion „massiven wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt gebracht“, Industrialisierung, Alphabetisierung, Bildung und Gesundheitsvorsorge. „Der Sieg im Zweiten Weltkrieg und Spitzenleistungen in der Raumfahrt wurden auch durch die Turboindustrialisierung ermöglicht.“ Die industrielle Entwicklung erfolgte jedoch oftmals zum Preis der Ausbeutung und Zwangsarbeit von Millionen und von starker Umweltzerstörung.

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Die Sowjetunion sei letztlich daran „gescheitert, den Menschen eine gewaltfreie Integrationsperspektive zu geben“. Das Staatsgebilde sei von drei Konzepten zusammengehalten worden: Gewalt, Modernisierung und kommunistischer Ideologie. Um die massiven Probleme Anfang der 1980er zu überwinden, habe Michail Gorbatschow seine Perestroika und Glasnost eingeleitet. Doch statt Erfolgen kam die Idee der nationalen Unabhängigkeit in den Republiken auf. Den Todesstoß versetzte der UdSSR unwillentlich allerdings der Versuch von Armee- und KGB-Spitzen, die Reformen mit einem Putsch zu stoppen, was scheiterte. Mit Gorbatschows Rücktritt endete auch die Existenz der UdSSR Ende 1991. (TT, APA)