Krieg in der Ukraine

Britischer Historiker: Vermute, dass Krieg in halbem Jahr vorbei ist

Seit zehn Monaten wird in der Ukraine gekämpft.
© APA/AFP/SAMEER AL-DOUMY

Ian Kershaw sagte in einem Interview der Süddeutschen Zeitung, der „derzeitige Grad der Zermürbung” sei „für beide Seiten schwer zu ertragen”. Und: Putin habe sich in eine Lage gebracht, die er nie vorhergesehen habe.

London, Kiew (Kyjiw) – Der britische Historiker Ian Kershaw geht nach eigenen Angaben davon aus, dass der russische Angriffskrieg in der Ukraine im kommenden Sommer vorbei sein wird. „Im Frühjahr werden wir sehen, ob die Ukrainer mit westlicher Unterstützung zu einer neuen Offensive bereit sind, mit der sie die Angreifer zurückdrängen können. Wenn das der Fall ist, dann könnten wir im Frühjahr oder Sommer auf dem Weg zu der einen oder anderen Lösung sein”, so der 79-Jährige in einem SZ-Interview.

Der „derzeitige Grad der Zermürbung” sei „für beide Seiten schwer zu ertragen”, sagte der Historiker der Süddeutschen Zeitung am Freitag online. „Deshalb vermute ich, dass der Krieg in einem halben Jahr vorbei ist.”

Russlands Präsident Wladimir Putin habe sich in eine Lage gebracht, die er nie vorhergesehen habe, sagte Kershaw der Zeitung weiter. „Er befindet sich jetzt in einem Krieg, den er nicht gewinnen kann und der sehr kostspielig und schädlich ist.” Nun gelte es abzuwarten, in welchem Zustand die Streitkräfte auf beiden Seiten am Ende dieses Winters sein werden. „Für die Ukraine wird das ein sehr harter Winter, aber natürlich auch für viele Russen.”

Der Krieg gegen das Nachbarland habe für Moskau auch langfristige Konsequenzen, meinte Kershaw. „Russland ist jetzt isoliert, jedenfalls in Europa. In dem Sinne war die Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, eine teure Entscheidung. Sie verändert Europa, wie genau, ist noch nicht absehbar”, so der 79-Jährige. Klar sei allerdings schon jetzt: „Der Krieg hat uns bereits eine neue Energiepolitik aufgezwungen und eine Rezession beschert.”

Kreml: 3.000 zivile Opfer bei Kämpfen um Mariupol

Monate nach der blutigen Eroberung der ukrainischen Hafenstadt Mariupol hat Russland von 3000 getöteten Zivilisten gesprochen und damit erstmals eigene Schätzungen veröffentlicht. Die Schäden, die der Stadt bei der monatelangen Belagerung entstanden sind, bezifferte das russische Ermittlungskomitee in einer am Freitag veröffentlichten Pressemitteilung zugleich auf 176 Milliarden Rubel (2,3 Milliarden Euro). Moskau machte für die Schäden und Verluste Kiew verantwortlich.

Internationale Organisationen werfen hingegen Russland zahlreiche Kriegsverbrechen bei der Annexion Mariupols vor. Die Kämpfe um die im Gebiet Donezk gelegene Großstadt Mariupol begannen unmittelbar nach Ausbruch des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar. Die letzten ukrainischen Verteidiger der monatelang belagerten Stadt gingen am 20. Mai in russische Kriegsgefangenschaft. Nach Angaben Kiews sind durch den ständigen Artilleriebeschuss und die humanitäre Notlage, die durch die russische Belagerung entstand, Zehntausende Zivilisten ums Leben gekommen. Auch die EU und die Vereinten Nationen haben Moskau Kriegsverbrechen während der Kämpfe um Mariupol vorgeworfen.

Aus russischer Sicht hingegen sind die ukrainischen Verteidiger der Stadt an den immensen Verlusten und Schäden schuld. Das russische Ermittlungskomitee unter Führung von Alexander Bastyrkin, einem engen Vertrauten von Kremlchef Wladimir Putin, behauptete am Freitag, dass die 3.000 getöteten Zivilisten von ukrainischen Soldaten getötet worden. Die massiven Zerstörungen der zivilen Infrastruktur seien nur dadurch zustande gekommen, dass Kiew Wohn-und Krankenhäuser militärisch genutzt habe, teilte die Behörde nach einer Sitzung im besetzten Mariupol mit. (APA, dpa)