Benedikt XVI. ist tot: Der Deutsche, der nicht mehr Papst sein wollte
Joseph Ratzinger wollte sein Leben lang Bücher schreiben, doch es kam anders. 2005 hieß es: „Wir sind Papst!” Als Benedikt XVI. war er eher Bewahrer als Erneuerer. Doch ganz am Ende kam der große Knall.
Vatikan-Stadt, Rom, München – Benedikt XVI. brauchte nur einen einzigen kurzen Moment, um sich für alle Zeiten einen besonderen Platz in der Geschichte der Päpste zu sichern. Es war der 11. Februar 2013, als er in einer Vollversammlung der Kardinäle völlig überraschend in lateinischer Sprache verkündete, „auf das Amt des Nachfolgers Petri zu verzichten”. Die obersten Würdenträger der katholischen Kirche konnten es zunächst gar nicht fassen, zweifelten an den eigenen Lateinkenntnissen und zupften ihren Nachbarn fragend am Chorgewand.
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Aber sie hatten richtig verstanden: Als erster Papst seit dem Jahr 1294 trat Benedikt freiwillig zurück. Er begründete dies mit seiner schlechten Gesundheit – der 85-Jährige war vom baldigen Tod überzeugt. Am Ende ist es dann doch noch ein sehr langer Lebensabend geworden: Im hohen Alter von 95 Jahren ist der emeritierte Papst am Samstag im Kloster Mater Ecclesiae in den Vatikanischen Gärten gestorben.
1927–2022
„Ein Gigant des Glaubens”: Papst Benedikt XVI. mit 95 Jahren gestorben
Früherer Papst verstorben
Neuland für den Vatikan: Was passiert nach dem Tod von Benedikt XVI.?
Traditionalisten haben Benedikt 2013 vorgeworfen, mit seinem Rücktritt das heilige Amt zu entsakralisieren. Heute wird der Schritt ganz überwiegend positiv gesehen. Kritisiert wird vielmehr, dass er nur dieses eine Mal den Mut aufbrachte, die Ketten der Tradition zu sprengen. In seiner achtjährigen Amtszeit war er eher Bewahrer als Erneuerer. Insbesondere bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern durch katholische Priester ist er nach Meinung auch wohlmeinender Beobachter viel zu zögerlich vorgegangen. Und am Ende brachte ihn ein Gutachten arg in Bedrängnis. Die Bilanz seines Pontifikats fällt dementsprechend zwiespältig aus.
Joseph Ratzinger war ein unwahrscheinlicher Kandidat für das Amt des Stellvertreters Christi auf Erden. Er sah schmal und zartgliedrig aus, dazu kam eine näselnde Fistelstimme. Im persönlichen Umgang machte er einen höflich-korrekten, aber immer etwas distanzierten Eindruck. Sobald er aber über theologische Fragen sprach, entfaltete sich seine unbestrittene intellektuelle Brillanz. Dann spürte man plötzlich, dass man es mit einem besonderen Menschen zu tun hatte.
Junger Professor mit Ruf als „Reform-Theologe”
Sein Leben liest sich wie ein Märchen, dessen Held durch wundersame Umstände aus einem alten Bauernhof in Bayern in den Apostolischen Palast in Rom gelangt. Joseph Aloisius Ratzinger wird am 16. April 1927 in Marktl am Inn geboren. Der Vater ist Gendarm, die Mutter Köchin. Er hat zwei ältere Geschwister, Maria und Georg. Die Familie hält eng zusammen. Vereint ist sie auch in der Ablehnung der Nazi-Ideologie. Nur zwangsweise wird Joseph in die Hitlerjugend eingegliedert.
Nach dem Krieg studiert der spindeldürre junge Mann mit dem akkuraten Scheitel Theologie und wird 1951 zum Priester geweiht. Als Pfarrer hält er sich nach eigener Darstellung für ungeeignet, da er „eher schüchtern und recht unpraktisch” sei. Stattdessen strebt er eine wissenschaftliche Laufbahn an. 1958 wird er mit nur 31 Jahren Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie in Freising. Ein Jahr darauf wechselt er nach Bonn, später nach Münster und Tübingen. Immer bei ihm: seine ältere Schwester Maria, die ihm den Haushalt führt.
Der Spiegel bezeichnet ihn in dieser Zeit als „begabtesten deutschen Reform-Theologen”. Als es 1962 beim Zweiten Vatikanischen Konzil darum geht, die Kirche für die Moderne zu öffnen, treibt er die Erneuerung voran. 1967 erscheint sein Hauptwerk, die „Einführung ins Christentum”.
Rückzug nach Regensburg und Kardinal von München und Freising
Dann aber kommen die 68er und werden zum Wendepunkt in seinem Leben. Jetzt ziehen marxistische Rollkommandos durch die Hörsäle. „Das ist natürlich kein Ding für ihn”, spottet sein Tübinger Kollege Hans Küng. Erschrocken zieht sich Ratzinger nach Regensburg zurück. Jetzt kommen ihm Zweifel, ob sich die Kirche wohl zu weit geöffnet hat. Wenn erst einmal ein Teil des Glaubens infrage gestellt ist, ist es dann nicht nur eine Frage der Zeit, bis das ganze Gebäude zusammenstürzt? Er will dem vorbeugen – als Autor theologischer Bücher. Doch der Vatikan durchkreuzt seine Pläne: 1977 wird er zum Erzbischof von München und Freising berufen.
Die mit dem Amt verbundenen Verwaltungsprozesse sind dem Schöngeist ein Graus. Er arbeitet sich aber schnell ein und erwirbt sich Respekt. Im Verborgenen bleibt lange: Wie überall in der Kirche werden auch in Ratzingers Verantwortungsbereich Priester, die Kinder sexuell missbraucht haben, einfach in die nächste Gemeinde weiterversetzt. Ein Gutachten von Anfang 2022 wirft dem Kirchenmann Fehler in vier Missbrauchsfällen aus jener Zeit in München und Freising vor. Ratzinger beteuert bis an sein Lebensende, davon nichts gewusst zu haben. Aber er hat wohl auch nie so genau hingesehen.
📽️ Video | Ein Papst im Ruhestand
Nach nur vier Jahren in München macht ihn der Papst 1981 zum Präfekten der römischen Glaubenskongregation. Jetzt wandern sein Flügel und seine Bibliothek über die Alpen. Der große Charismatiker Johannes Paul II. und sein sieben Jahre jüngerer Chefdenker ergänzen sich perfekt. Fast ein Vierteljahrhundert ist der kühle Kopfmensch Ratzinger nun oberster Hüter der katholischen Lehre.
Vom Reformer zum „Großinquisitor” und „Panzerkardinal”
In dieser Funktion entzieht er dem liberalen Theologen Küng die kirchliche Lehrerlaubnis und erlegt dem brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff wegen seiner Kirchenkritik ein Jahr Bußschweigen auf. Forderungen nach einer Demokratisierung der Kirche, nach der Priesterweihe für Frauen und verheiratete Männer lehnt er ab.
Bald sind die Augen und Ohren des Vatikans überall. Man nennt Ratzinger den „Großinquisitor” und den „Panzerkardinal”. Dabei wirkt er doch so harmlos. Morgen für Morgen sieht man ihn mit Baskenmütze und abgewetzter Aktentasche in seinen typischen kleinen Trippelschritten von seiner Wohnung über den Petersplatz zum Büro laufen. Manchmal bleibt er sogar stehen und redet einer Straßenkatze zu. Nein, er genießt es nicht, Macht über andere Menschen auszuüben. Aber er ist überzeugt, dass er es tun muss – für die Einheit der Kirche.
„Wir sind Papst!” und „Papa Ratzi”
Dann bricht das Jahr 2005 ein. Ein heftiger Wind fährt in die blutroten Gewänder der 165 Kardinäle, die sich nach dem Tod des Jahrhundert-Papstes Johannes Paul II. auf dem Petersplatz versammelt haben. Ratzinger ist der Zeremonienmeister der Grablegung, gefolgt vom Konklave zur Wahl des Nachfolgers.
Kurz zuvor hält er die wichtigste Predigt seines Lebens. Er sagt: „Einen klaren Glauben zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.”
Diese Worte verfehlen ihre Wirkung nicht. Überraschend schnell steigt weißer Rauch auf: „Habemus Papam”, „Wir haben einen Papst”, heißt es am 19. April 2005. Schwere rote Samtvorhänge werden zurückgeschlagen. Etwas zögernd tritt der Neue auf den Balkon und wirft die Arme hoch, lächelt. Fortan heißt er Benedikt XVI.
Die Wahl des ersten Deutschen seit 480 Jahren ist eine Sensation. „Wir sind Papst!”, titelt die Bild-Zeitung, „Papa Ratzi” die britische Sun. Die linke taz seufzt auf tiefschwarzem Grund nur: „Oh, mein Gott!” Ist der Gelehrte der Richtige, um weit über eine Milliarde Katholiken zu führen? Er selbst räumt ein: „Das praktische Regieren ist nicht so meine Seite.”
Dennoch gibt es anfangs ein richtiges „Benedetto-Fieber”, gerade weil seine Unbeholfenheit im Rampenlicht authentisch rüberkommt. Nach einer 48-sekündigen Audienz beim Heiligen Vater schwärmt etwa Franz Beckenbauer, dies sei der Höhepunkt seines Lebens gewesen.
Missbrauchsskandal erschüttert die Kirche
Doch dann erschüttert der Missbrauchsskandal die Grundfesten der Kirche. Benedikts Privatsekretär Georg Gänswein spricht vom „9/11 unseres Glaubens” – die Enthüllungen traumatisieren die Kirche demnach ähnlich stark wie die Terroranschläge vom 11. September die USA. Überall in der Welt sind Kinder von Priestern sexuell missbraucht worden. Und überall schützte die Kirche die Täter, nicht die Opfer.
Benedikt bleibt nicht tatenlos, er verschärft das kirchliche Strafrecht. Doch gleichzeitig verteidigt er die Kirche immer wieder als Ganzes. Dass die Strukturen der absoluten Wahlmonarchie Verbrechen an Schutzbedürftigen begünstigen, dass die herausgehobene Stellung der Priester als Mittler zwischen Gott und den Menschen den Missbrauch von Macht geradezu herausfordert, das will er nicht erkennen.
Als der Vatileaks-Skandal auch noch Geldwäsche, Korruption und Misswirtschaft ans Licht bringt, wachsen ihm die Probleme über den Kopf. Vertraute erleben ihn deprimiert und erschöpft, die Ringe unter seinen Augen werden immer dunkler. All das trägt dazu bei, dass er den Entschluss zum Rücktritt fasst. Das Symbolbild seines Abschieds ist ein Hubschrauber vor der gewaltigen Kuppel des Petersdoms – er bringt den emeritierten Papst zur Sommerresidenz Castel Gandolfo.
„Viel Grund zum Erschrecken und zur Angst”
Sein Nachfolger Franziskus ist in vielen Punkten geradezu das Gegenbild zu ihm. Für seine Nahbarkeit und sein betont schlichtes Auftreten wird der Südamerikaner vor allem anfangs weltweit gefeiert. Benedikt kann der Versuchung nicht widerstehen, hin und wieder mit konservativen Spitzen gegen ihn Stellung zu beziehen.
Zum letzten Mal meldet er sich im Februar 2022 zu Wort, nachdem ihm ein Missbrauchsgutachten Fehlverhalten in seiner Zeit als Erzbischof von München angelastet hat. „Ich habe in der katholischen Kirche große Verantwortung getragen”, schreibt der emeritierte Papst in einer Stellungnahme. „Umso größer ist mein Schmerz über die Vergehen und Fehler.” Beim Rückblick auf sein langes Leben habe er „viel Grund zum Erschrecken und zur Angst”.
Aber dann fügt er noch etwas hinzu: Wenn er nun bald sterbe und dann Gott gegenübertrete, hoffe er darauf, dass dieser nicht nur sein Richter sein werde. Sondern auch sein „Freund und Bruder”. (dpa)
Nachruf
Innsbrucks Bischof Glettler zum Vermächtnis des verstorbenen Papstes Benedikt XVI.
Tod von Benedikt XVI.