„Symbol der Entschlossenheit": Meinungen zum Kiew-Besuch von US-Präsident Joe Biden
The Times (London):
"Der Überraschungsbesuch des amerikanischen Präsidenten in Kiew anlässlich des bevorstehenden Jahrestages (des Kriegsbeginns) war nicht nur ein Symbol dafür, dass die Ukraine trotzig ungeschlagen bleibt und dass Putins Ambitionen durchkreuzt wurden. Er war auch ein Symbol für die anhaltende Unterstützung des Westens für den tapferen Kampf der Ukraine zur Verteidigung ihrer Souveränität und territorialen Integrität angesichts eines grausamen imperialen Eroberungskrieges durch eine kriminelle Diktatur. (...)
Dennoch muss der Westen mehrere dringende Herausforderungen angehen, wenn er Kiew die bestmögliche Chance auf einen Sieg zu den geringstmöglichen Kosten eröffnen will. An erster Stelle steht dabei, die Lieferung der versprochenen Waffen zu beschleunigen. Sie müssen rechtzeitig eintreffen, um der Ukraine eine neue Offensive noch vor dem Sommer zu ermöglichen. Es ist besorgniserregend, dass Deutschland, das die Entscheidung über die Lieferung von Leopard-2-Panzern hinausgezögert hatte, nun seine Verbündeten auffordern muss, ihre Zusagen einzuhalten."
📽️ Video | US-Präsident Biden in Kiew
Sydney Morning Herald:
"Eine lange Liste von Spitzenpolitikern hat im vergangenen Jahr die lange Zugfahrt nach Kiew unternommen – vom britischen Premierminister über den französischen Präsidenten, von Rockstars bis hin zu Hollywood-Größen und sogar (dem australischen Premierminister) Anthony Albanese. (...) Aber die Szenen des 80-jährigen Joe Biden, Präsident der Vereinigten Staaten, wie er Seite an Seite mit Wolodymyr Selenskyj an den glitzernden goldenen Kuppeln des St. Michaelsklosters vorbeiging, erinnerten zum richtigen Zeitpunkt daran, was in der Ukraine auf dem Spiel steht.
Der Besuch ist ein Symbol amerikanischer Entschlossenheit. (...) Vor dem ersten Jahrestag der russischen Invasion am Freitag führt das westliche Bündnis hinter der Ukraine schwierige Debatten. Auch Biden steht zu Hause unter Druck, die Militärhilfe aufrechtzuerhalten, während auch Europa – das sich auf eine Weise vereint hat, die der russische Präsident Wladimir Putin für unmöglich gehalten hatte – Anzeichen von Kriegsmüdigkeit zeigt."
Neue Zürcher Zeitung:
"Eindrücklicher könnte das Signal kaum sein, das Biden nach Moskau sendet: Egal, wie viele Soldaten und wie viele Artilleriegeschütze ihr in die Ukraine entsendet. Ich traue mich, in das Land zu reisen, wann immer es mir passt. Die Ukraine gehört nicht zum russischen Einzugsgebiet, wie ihr immer behauptet. Sie gehört zur Interessensphäre des Westens, weil ihre Bevölkerung das so wünscht und weil wir sie willkommen heißen. (...)
Biden rückt damit auch einen der größten Erfolge seiner bisherigen Amtszeit ins Bewusstsein der amerikanischen Öffentlichkeit: Auf die gewaltige geopolitische Herausforderung des Angriffs Russlands auf die Ukraine vor einem Jahr hat seine Administration besonnen, zielstrebig und machtvoll reagiert. Ohne Bidens entschlossene Führung im Verteidigungsdispositiv des Westens wäre Kiew heute wohl bereits in russischer Hand und eine solche Reise des amerikanischen Präsidenten nicht mehr möglich. Doch den Krieg entscheiden nicht Worte, sondern Taten. Oder bezogen auf die westlichen Alliierten der Ukraine: Unterstützung in Form von Kriegsmaterial, Munition, Geheimdienstinformationen, Logistik und Hilfeleistungen an die Zivilbevölkerung und den Staatshaushalt der Ukraine."
Tages-Anzeiger:
"Die riskante Reise bestätigt, dass die USA nicht lockerlassen und die Ukraine weiterhin mit Waffen und Geld unterstützen, um die russischen Eindringlinge zu vertreiben. Und Biden ist nicht mit leeren Händen gekommen: Das Weiße Haus kündigte an, noch mehr Artilleriemunition, Panzerabwehrwaffen und Radare für die Luftüberwachung zu liefern. Auch wenn nicht die Rede war von modernen Kampfjets, die die Ukraine will: Weit wichtiger war, dass der US-Präsident ganz viel Zuversicht für die Ukrainerinnen und Ukrainer mitgebracht hat. (...)
Offensichtlich ist Biden bereit, sein außenpolitisches Kapital für die Ukraine einzusetzen. Dies ist auch ein deutliches Signal an seine Gegner in der Republikanischen Partei, die der Ukraine-Hilfe skeptisch gegenüberstehen. Die uneigennützige Hilfe für die Ukraine dürfte deshalb sein politisches Vermächtnis prägen.
Die gewagte Reise über Land nach Kiew ist gleichzeitig eine Ansage an all jene, die in Washington hinter und vor den Kulissen raunen, er sei zu alt für den Job. Nach dem Kiew-Trip ist es wohl nur noch eine Formsache, dass Joe Biden seine Kandidatur für eine zweite Amtszeit ankündigt. Und darüber dürfte sich nicht nur Wolodymyr Selenskyj freuen."
Sydsvenskan (Malmö):
"Es sind schon jetzt historische Bilder: Biden und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spazieren durch das Zentrum von Kiew, zum Geräusch des Luftalarms, den die Einwohner seit nunmehr bald einem Jahr hören müssen. Dass Biden sich nicht damit zufrieden gab, Selenskyj wie vom Secret Service und Pentagon empfohlen auf polnischem Boden zu treffen, ist selbstverständlich unerhört wichtig. Für den ukrainischen Kampfwillen. Und als Zeichen gegen Wladimir Putin.
Biden und Selenskyj scheinen in all den Gesprächen, die sie seit Kriegsausbruch geführt haben, eine Freundschaft entwickelt zu haben, aber dass ein US-Präsident tatsächlich auch vor Ort seine Unterstützung zeigt, das kann nicht unterschätzt werden. Ein Augenblick, der trotz der Bedrohung durch Luftangriffe gerade in Kiew verewigt wurde, nur knapp 800 Kilometer von Putins Moskau entfernt."
Lidove noviny (Prag):
"Bidens Besuche in Kiew und in Warschau werfen indirekt auch ein Schlaglicht auf die Differenzen unter den westlichen Unterstützern der Ukraine. In Kiew hat Biden weitere Waffenlieferungen zum Beispiel von Artilleriemunition zugesagt, aber weder Raketen mit größerer Reichweite noch Kampfflugzeuge, wie es sich die Ukrainer und manche ihrer europäischen Partner wünschen würden. Der Westen als Ganzes ist unsicher, wie sehr er die Ukraine in ihrem Bemühen unterstützen soll, den Krieg zuerst auf die Krim und dann auf russisches Gebiet zu tragen. Würde das Russland zu Friedensverhandlungen bewegen oder im Gegenteil zu einer Ausweitung des Krieges führen und Moskau gar zu einem Atomschlag verleiten?"
Leitartikel
Bidens überraschender Besuch: Inszenierung in Kiew
Treffen mit Selenskyj