Fernduell Putin-Biden: Fest der Demokratie und Feldzug gegen den Westen
In Moskau spricht Kremlchef Wladmir Putin über den Feldzug seines Landes gegen den Westen. In Warschau hält kurz danach US-Präsident Joe Biden eine Rede über Demokratie und Freiheit. Der Kontrast könnte größer nicht sein. Und beide bedenken einander mit Botschaften.
Moskau, Warschau – Joe Biden geht in die Knie. Der 80-Jährige hockt sich hin, legt seinen Arm um einen kleinen Jungen mit Flauschjacke und Ukraine-Fahne. Um ihn herum Dutzende lächelnde Kinder, die mit amerikanischen, polnischen und ukrainischen Fähnchen wedeln. Vor der Bühne jubeln ein paar Tausend Polen dem US-Präsidenten zu. Über ihm erleuchtet eine Lichtshow den Abendhimmel von Warschau. Und aus Lautsprechern tönt laute Musik.
Der US-Präsident inszeniert sein Plädoyer für die Demokratie und die Freiheit als großes Fest. Kurz vor der Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine hält Biden an diesem Dienstagabend wieder eine Rede in der polnischen Hauptstadt. Eine öffentliche Ansprache, unter freiem Himmel, vor dem Warschauer Königsschloss im Herzen der Stadt – wie schon Ende März 2022, einen Monat nach Kriegsbeginn. Wieder spricht er an der Ostflanke der Nato, wo der ukrainische Krieg so nah ist.
Biden zählt dort die Misserfolge jenes Mannes auf, der diesen Krieg begonnen hat: Russlands Präsident Wladimir Putin. Der Kremlchef habe sich verkalkuliert, besonders was die Widerstandskraft der Ukrainer und die Entschlossenheit ihrer Partner angehe. Die ukrainische Hauptstadt Kiew sei ein Jahr nach dem Kriegsbeginn „stolz“, „aufrecht“ und „frei“, ruft Biden in die Menge. Und die Unterstützung der USA und ihrer Partner für die Ukraine werde nicht wanken. „Die Nato wird nicht gespalten, und wir werden nicht müde.“
Biden beschwört die Demokratie und die Freiheit. Die Demokratien auf der Welt seien stärker geworden, die Autokratien schwächer. Ein Diktator könne den Menschen niemals ihre Liebe für die Freiheit nehmen, ruft er. „Und die Ukraine wird niemals ein Sieg für Russland sein. Niemals.“
📽️ Video | Krieg der Worte der Präsidenten
Putins Auftritt als Kontrastprogramm in Moskau
Der Kontrast zu Putins Auftritt wenige Stunden vorher könnte kaum größer sein. Als der Kremlchef am Dienstagvormittag seine mit Spannung erwartete Rede zum Jahrestag des Kriegsbeginns gegen die Ukraine hält, tut er das vor ein paar Hundert geladenen Gästen im Gostiny Dwor in Kremlnähe. Auch er bekommt für seine zutiefst antiwestliche Rede Applaus. Mehrfach erheben sich die Zuhörer aus ihren Sitzen für stehende Ovationen. Aber Jubel brandet nicht auf. Auch Fähnchen oder Popmusik gibt es keine. Statt dessen verfolgen manche im Publikum die Rede mit versteinerter Miene.
Und statt Lichtshow gibt es bei Putin ein Feuerwerk an Vorwürfen gegen den Westen. Die USA und die Nato-Staaten selbst seien schuld an dem Krieg, behauptet der 70-Jährige in dem fast zweistündigen Auftritt in Moskau. Sie hätten es auf eine „strategische Niederlage“ Russlands abgesehen mit dem Ziel, das Land zu zerstören. „Es sind sie (im Westen), die den Geist aus der Flasche gelassen und ganze Regionen ins Chaos gestürzt haben“, sagt Putin mit Blick auf die Ukraine, aber auch auf andere Konflikte in der Welt.
Und: Als eine Konsequenz der wachsenden Konfrontation verkündet Putin eine Aussetzung des letzten atomaren Abrüstungsabkommens mit den USA. Sollte der „New Start“-Vertrag nun enden, wäre damit einer der noch verbliebenen wenigen Kontakte zwischen Russland und den USA zerstört.
📽️ Video | Putin setzt letzten Abrüstungsvertrag aus
Die Aussetzung von „New Start“ begründet Putin vor allem damit, dass etwa Frankreich und Großbritannien ihre Atomwaffenarsenale weiter entwickelten und die Nuklearpotenziale gegen Russland ausrichten würden. Putin wertet auch Äußerungen der Nato zu „New Start“ als Einmischung und Grund, den Vertrag zu überdenken.
„New Start“ ist das einzige noch verbliebene große Abkommen zur Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland. Der Vertrag begrenzt die Atomwaffenarsenale beider Länder auf je 800 Trägersysteme und je 1550 einsatzbereite Sprengköpfe. Zudem ist geregelt, dass Washington und Moskau Informationen über ihre strategischen Atomwaffenarsenale austauschen und bis zu 18 Verifikationsbesuche pro Jahr abhalten dürfen.
Putin behauptete Gegenteil
Außenministerium: Moskau hält sich weiter an New-Start-Abkommen
US-Außenminister Antony Blinken reagiert für die US-Regierung als erster auf Putins Ansage. „Unverantwortlich“ sei das, klagt Blinken am Rande eines Besuches in Griechenland. Biden geht in seiner Rede in Warschau nicht auf Putins neue Eskalation ein.
📽️ Video | Analysen zu Reden von Putin und Biden
Doch er gibt dem Kremlchef etwas anderes mit auf den Weg: Biden warnt Russland eindringlich vor einem Angriff auf einen Nato-Mitgliedsstaat und droht mit einer mächtigen militärischen Antwort. „Es besteht kein Zweifel: Das Bekenntnis der Vereinigten Staaten zu unserem Nato-Bündnis und zu Artikel Fünf ist felsenfest“, sagt er. „Jedes Mitglied der Nato weiß es, und Russland weiß es auch: Ein Angriff gegen einen ist ein Angriff gegen alle. Es ist ein heiliger Eid, jeden Zoll Nato-Gebiet zu verteidigen.“
Die wichtigste Botschaft hatte Biden sei seinem Trip ohnehin schon vorher überbracht: nonverbal. Dass der US-Präsident am Montag vor dem Besuch in Warschau überraschend nach Kiew reiste und sich dort Seite und Seite mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj zeigte, war eine echte Machtdemonstration gegenüber Putin. Biden spazierte mit Selenskyj - trotz Luftalarm und gewaltiger Sicherheitsrisiken - unter freiem Himmel vor Wahrzeichen jener Stadt entlang, die Putin eigentlich hatte erobern und für sich beanspruchen wollen. Doch der Kremlchef scheiterte am Widerstand der Ukrainer. Biden argumentiert, er scheiterte am Widerstand der Demokratie. (dpa)
Rede zur Lage der Nation
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