Konflikt brodelt weiter

Historiker Zadoff über Konflikt in Israel: „Am Ende zerreißt es die Gesellschaft“

Benjamin Netanjahu vor einer Woche in Berlin. Um an der Macht zu bleibe­n, muss er seine radikalen Partner bedienen.
© AFP/Schwarz

Ein populistischer Premier lässt jahrzehntealte Spannungen eskalieren. Der israelische Historiker Zadoff über die Hintergründe der aktuellen Krise.

Tel Aviv – Mit seiner Entscheidung, die umstrittene Justizreform zu vertagen, hat Israels Premierminister Benjamin Netanjahu ein wenig Zeit gewonnen. Aber der Konflikt zwischen seiner rechts-religiösen Regierung und ihren Kritikern brodelt weiter. „Am Ende wird es die israelische Gesellschaft zerreißen“, warnt Noam Zadoff, israelischer Historiker an der Uni Innsbruck. Er sieht das Land in seiner tiefsten Krise seit der Gründung 1948.

Vordergründig hat dies vor allem mit dem Populismus und dem Machtspiel von Netanjahu zu tun. Seit eineinhalb Jahrzehnten hält er sich fast ununterbrochen an der Macht, indem er die Politik und das Land spaltet und Interessen gegeneinander ausspielt. Er hat sich selbst zum Vertreter des Volkes gegen imaginäre Eliten gemacht und erklärt seine Kritiker zu Volksfeinden. Doch auf diese Weise sind ihm die politischen Partner ausgegangen und er ist nun auf Rechtsradikale und Ultrareligiöse angewiesen, um Regierungschef zu bleiben und aus dieser Position heraus drei Korruptionsanklagen abzuwehren.

Dahinter stehen laut Zadoff jahrzehntealte Spannungen in der israelischen Gesellschaft, die sich nun durch Netanjahus Politik entladen. Zadoff nennt erstens die konfliktreichen Beziehungen zu den Palästinensern samt der (völkerrechtswidrigen) Besatzungs- und Siedlungspolitik und der offenen Frage, wo Israels Grenzen verlaufen.

Zweitens der Widerspruch in der Definition Israels als jüdischer und demokratischer Staat. „Als jüdischer Staat gewährt Israel einem bestimmten Teil seiner Bevölkerung Privilegien, als Demokratie hat das Land die Pflicht, (alle) seine Bürger gleich zu behandeln“, sagt Zadoff. Die Beziehung zwischen Staat und Religion wurde nie formal festgelegt, und das schafft den politischen Spielraum für Extremisten aller Art.

Zuletzt hat eine fundamentalistische Siedlerbewegung, die bis dahin keine politische Macht hatte, den Weg ins Parlament und dank Netanjahu auch in die Regierung geschafft. Sie will die Palästinenser vertreiben und ein theokratisch verfasstes Groß-Israel errichten. Das Pogrom gegen Palästinenser im Februar in der Stadt Huwara – nach dem Mord an zwei Siedlern – geht auf ihr Konto.

Drittens nennt Zadoff die starke Militarisierung der Gesellschaft. Ein großer Teil der Israelis verbringt Jahre im Wehrdienst, oft in den besetzten Gebieten, und bleibt auch danach in der Reserve. „Es ist nur natürlich, dass die harte Realität der Besatzung das zivile Leben durchdringt und beeinflusst.“ Dazu kommt, dass viele Top-Militärs in die Politik wechseln, was die Grenzen weiter verwischt.

Es besteht auch die Möglichkeit, dass die israelische Demokratie nicht gewinnt.
Noam Zadoff (Historiker, Uni Innsbruck)

Interessant ist, dass die aktuellen Proteste auch von vielen aktiven oder ehemaligen Militärs mitgetragen werden. „Dass Reservisten nicht zum Dienst erscheinen, wäre früher tabu gewesen“, so Zadoff.

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Verschärft werden diese Spannungen durch das Fehlen einer Verfassung. Wie der Staat Israel funktioniert, ist nur durch eine Sammlung von Gesetzen festgelegt, die mit einfacher Mehrheit geändert werden können. Netanjahu und seine radikalen Partner wollen nun den Hebel an die einzige Institution legen, die bisher als Kontrolle der politischen Macht fungierte – nämlich das Oberste Gericht. Wenn ihnen das gelingt, „dann können sie alles machen, was sie wollen“, sagt Zadoff. Das erklärt, warum Hunderttausende Israelis nun auf die Straße gehen.

Wie es weitergeht, bleibt offen. Netanjahu steht vor dem Problem, dass seine radikalen Partner die Koalition platzen lassen könnten, wenn er die umstrittenen Reformen absagt oder verwässert. Der politische Showdown ist damit nur bis nach den israelischen Feiertagen aufgeschoben.

Zadoff zufolge steht Israel an einer historischen Weggabelung. „Solche Momente in der Geschichte haben einen elastischen Charakter“, sagt er. „Alles kann passieren. (...) Es besteht auch die Möglichkeit, dass die israelische Demokratie nicht gewinnt.“

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