Zuhause und Normalität fehlen

Drei Monate nach Beben in Türkei: Die Kinder finden keinen Trost

Dreimal wurde Saadet (11) bereits operiert, weitere Eingriffe stehen ihr bevor. Ihr Vater Serkan steht ihr bei, doch die Trauer um die Mutter und der Verlust ihres Zuhauses bremsen den Heilungsverlauf.
© APA/dpa/Rössler

Drei Monate nach der Bebenkatastrophe in der Türkei hat sich das Leid tief in die Seelen der Kinder gefressen. Neben der Trauer um Angehörige fehlt ihnen das Zuhause und Normalität.

Antakya – Als Saadet vor wenigen Tagen ihren 11. Geburtstag feierte, war es der erste ohne ihre Mutter. In der Nacht der verheerenden Erdbeben vom 6. Februar in der Türkei und Syrien haben herabstürzende Betonteile dem Mädchen die Beine zertrümmert – und die Mutter genommen. Drei Monate danach kann Saadet noch immer nicht wieder auf ihren Beinen stehen. Dreimal wurde sie bereits operiert, mindestens zwei weitere Operationen stehen bevor, sagt ihr Vater Serkan Agri.

Schienen halten ihre gebrochenen Knochen zusammen. Für alles andere braucht sie ihren Vater. Er kann seine Tochter seit der Nacht, in der er seine tote Frau zurücklassen musste, um Saadet und deren elfjährigen Bruder Mahmut ins Krankenhaus zu bringen, nicht allein lassen. Wieder arbeiten gehen sei derzeit unmöglich.

Ein Kinderpsychologe, angestellt im Erdbebengebiet für den türkischen Staat und hier nicht namentlich genannt, hat Verhalten wie das von Saadet bei etlichen Kindern beobachtet. „Sobald die Grundbedürfnisse wie Essen und Unterkunft gestillt sind, treten die seelischen Wunden zum Vorschein.“

Kinder, die Angehörige verloren haben, hätten oft Schuldgefühle, selbst überlebt zu haben. Viele fühlten ständige Angst, würden depressiv oder litten unter häufigen Weinkrämpfen. Auch selbstmordgefährdete Kinder habe er bei seiner Arbeit getroffen.

Zu den psychischen Folgen kommen die körperlichen. Die Menschen, die das Erdbebengebiet nicht verlassen haben, leben häufig in Zelten oder – seltener – in einem Container. Flöhe und Krätze sind in vielen der Zeltcamps weit verbreitet, erklärt Kinderarzt Ilker Salar. Viele Menschen haben weiter keinen Zugang zu fließendem Wasser oder funktionierenden Sanitäreinrichtungen.

Menschen, die so nah an dem Schutt wohnen, erkranken mit großer Wahrscheinlichkeit in ein paar Jahren alle an Lungenkrebs.
Nihat Sahbaz, Türkische Ärztevereinigung in Kahramanmaras

So geht es auch dem neunjährigen Yakup. Seine Familie lebt in einem Zelt am Rande einer meterhohen Schutthalde an einer Straße nach Antakya. Eine Toilette gibt es, eine Dusche nicht. Gesicht und Haare des Jungen sind grau vom Staub, der beständig aufsteigt, wenn täglich Hunderte Lastwagen den Schutt aus der zerstörten Stadt hier abladen.

Umweltorganisationen, Ärzte und Menschenrechtler schlagen seit Wochen Alarm wegen der Abräumpraxis und warnen vor giftigen Stoffen in den Trümmern, allen voran vor Asbest. „Menschen, die so nah an dem Schutt wohnen, erkranken mit großer Wahrscheinlichkeit in ein paar Jahren alle an Lungenkrebs“, warnt Nihat Sahbaz von der Türkischen Ärztevereinigung in Kahramanmaras.

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Noch kein Unterricht

Davon weiß Yakup nichts. Er und die anderen Kinder, deren Familien ebenfalls hier die Zelte aufgeschlagen haben, spielen mit Autoreifen und allerhand anderem Material, was sich findet. In die Schule gehen sie noch nicht. Die türkische Regierung hatte eigentlich zugesagt, dass der Unterricht am 24. April in den Erdbebengebieten wieder aufgenommen wird.

Dabei wäre das gerade jetzt besonders wichtig, sagt der Kinderpsychologe. Nach den traumatischen Erlebnissen helfe es den Kindern vor allem, möglichst schnell zu Struktur und Normalität zurückzukehren. In der Erdbebenregion brauche es grundsätzlich viel mehr psychologische Betreuung, aber auch Menschen, die Angebote für Kinder schafften. „Und Eltern müssen mit ihren Kindern über die Geschehnisse reden, die Kinder brauchen das.“

Vater Serkan hätte seinen Kindern die schreckliche Nachricht vom Tod der Mutter gern erspart. „Die Kinder haben später gesagt, sie hätten es gewusst, weil wir so viel geweint haben“, erzählt der junge Vater. Mehr als zwei Monate waren beide Kinder im Krankenhaus. Nach der Entlassung wollte Saadet unbedingt zu ihrer Mutter. Am Grab habe das Mädchen, das die Wochen vorher kaum einen Satz herausbrachte, dann angefangen zu reden. Seither sei sie wieder lebendiger, sagt ihr Vater.

Serkan hat die Region mit seinen Kindern inzwischen verlassen und ist ins 1000 Kilometer entfernte Bursa, südlich von Istanbul, gezogen, wo sie bei Verwandten wohnen können. „Ein Neuanfang, gezwungenermaßen.“ (TT, dpa)

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