Nächste 48 Stunden könnten über Russland entscheiden: Angst vor Bürgerkrieg
Kämpfer der Söldnertruppe Wagner haben am Samstag die Grenze nach Russland überquert und kontrollierten einem Insider aus russischen Sicherheitskreisen zufolge die militärischen Einrichtungen der Stadt Woronesch 500 Kilometer südlich von Moskau. Präsident Putin sieht eine "Meuterei" und "Verrat".
Moskau – In Russland tobt ein offener Machtkampf zwischen dem russischen Söldnerchef Jewgeni Prigoschin und der Führung in Moskau: Kämpfer von Prigoschins Söldnertruppe Wagner marschierten nach dessen Worten in der Nacht zum Samstag von der Ukraine aus nach Russland ein, nachdem der Söldnerchef zum Aufstand gegen die Armeeführung aufgerufen hatte. Der russische Präsident Wladimir Putin warf der Söldnertruppe "Verrat" vor.
Putin warnte vor einem "Bürgerkrieg" in Russland. Eine Gruppe russischer Nationalisten und Kriegsbefürworter um einen früheren Offizier des Inlandsgeheimdienstes FSB kündigte einen Plan zur Rettung des Vaterlandes an. Russland stehe am Rande einer Katastrophe, heißt es in einer Erklärung der Gruppe. Ein Bürgerkrieg könnte zu einer demütigenden militärischen Niederlage in der Ukraine führen. "Patriotische Kräfte" wollen sich demnach am Sonntag treffen, um über die Lage zu sprechen.
Der russische Präsident Wladimir Putin "arbeitet normal im Kreml", nachdem die Wagner-Gruppe geschworen hatte, die höchsten Militärführer des Landes zu stürzen. Dies erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskow, wie die russische Agentur Tass berichtete. Zuvor hatten mehrere soziale Netzwerke den von der Luftüberwachungsseite Flight Radar aufgenommenen Screenshot veröffentlicht, der den Flug eines russischen Regierungsflugzeugs von Moskau nach St. Petersburg zeigt und behauptet, Putin sei an Bord.
Laut der Agentur IFAX führte Putin ein Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der seine Unterstützung für die russische Führung zum Ausdruck gebracht habe.
📽 Video | Wagner-Blockade in Rostow
Angesichts des bewaffneten Aufstands hält der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak das Schicksal von Kremlchef Wladimir Putin für offen. "Die nächsten 48 Stunden werden über den neuen Status von Russland entscheiden", schrieb Podoljak am Samstag beim Kurznachrichtendienst Twitter. Möglich seien ein "ausgewachsener Bürgerkrieg", ein "ausgehandelter Machtübergang" oder auch eine "vorübergehende Atempause vor der nächsten Phase des Sturzes des Putin-Regimes".
Podoljak ist einer der Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Weiter schrieb er: "Alle potenziellen Akteure entscheiden jetzt, auf welcher Seite sie stehen." In Russland herrsche gerade ein "ohrenbetäubendes Schweigen der Elite".
Prigoschin wähnt das Land hinter sich
Der Chef der russischen Wagner-Söldner, Jewgeni Prigoschin, wähnt das Land hinter sich. Die russische Bevölkerung unterstütze ihn, erklärte Prigoschin am Samstag in einer Audio-Botschaft. Seine Kämpfer hätten das russische Militär-Hauptquartier in der Stadt Rostow eingenommen, ohne einen einzigen Schuss abzugeben. Allerdings seien seine Kämpfer von Hubschraubern und Artillerie beschossen worden.
Der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR erklärte den "Putschversuch" für nicht erfolgreich. Es sei klar, dass der Versuch einer Destabilisierung der Gesellschaft und einer Anzettelung zu einem brudermörderischen Bürgerkrieg gescheitert sei, zitiert die amtliche russische Nachrichtenagentur Tass Sergej Naryschkin.
Autobahn M4 im Süden Moskaus wird gesichert
Russische Soldaten befestigen eine Stellung mit Maschinengewehren im Süden Moskaus, wie von der Zeitung "Wedomosti" veröffentlichte Fotos zeigen. Auf den Bildern ist auch zu sehen, wie sich schwerbewaffnete Polizisten an einem Ort an der Autobahn M4 versammeln. Auf der M4 bewegen sich Wagner-Söldner in Richtung Moskau. Die Autobahn führt von Süden in die russische Hauptstadt.
In der russischen Region Woronesch im Süden des Landes ist nach Angaben der lokalen Regierung ein Treibstofflager in Flammen aufgegangen. "In Woronesch wird ein brennendes Treibstofflager gelöscht", teilte der Gouverneur von Woronesch, Alexander Gusew, am Samstag auf Telegram mit und fügte hinzu, dass "über 100 Feuerwehrleute und mehr als 30 Fahrzeuge" vor Ort seien. "Ersten Berichten zufolge gibt es keine Opfer", teilte Gusew weiter mit.
📽 Video | Militärexperte Gruber über die Wagner-Gruppe
Zur Ursache des Brands gab es zunächst keine Informationen. Einige Medien veröffentlichten jedoch ein Video, in welchem ein Militärhubschrauber in der Region vor einer Explosion zu sehen ist.
In der russischen Region Woronesch rund 600 Kilometer südlich von Moskau meldete die russische Armee wegen des Aufstands der Söldner-Truppe Wagner am Samstag "Kampfhandlungen". Woronesch liegt etwa auf halbem Weg zwischen Moskau und der südlichen Stadt Rostow, wo Wagner-Söldner nach Angaben ihres Chefs Jewgeni Prigoschin am Morgen die Kontrolle über die dortigen Militäreinrichtungen übernommen haben.
Anti-Terror-Notstand ausgerufen
Die Vorsitzenden der beiden russischen Parlamentskammern und die von Russland eingesetzten Verwaltungschefs in den russisch kontrollierten Gebieten in der Ukraine brachten angesichts des Aufstands der Söldner-Truppe Wagner ihre Solidarität mit Putin zum Ausdruck.
Die Vorsitzende des russischen Oberhauses, Valentina Matwienko, versicherte, Putin habe die "volle Unterstützung" der Parlamentskammer. Unterhaus-Vorsitzender Wjatscheslaw Wolodin rief die Russen zur Unterstützung des Kreml-Chefs auf.
Auch die Verwaltungschefs der von Russland besetzten Regionen in der Ukraine unterstützten Putin. "Die Menschen in Cherson und die Region unterstützen unseren Präsidenten voll und ganz!", schrieb der von Moskau eingesetzte Gouverneur in Cherson auf Telegram. Das Gebiet stehe "dem Präsidenten bei", teilte auch der Gouverneur des von Russland kontrollierten Teils der Region Saporischschja mit.
Ebenso das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill I., stellte sich hinter Kreml-Chef Putin. "Ich unterstütze die Bemühungen des russischen Staatsoberhaupts, Unruhen in unserem Land zu verhindern", hieß es am Samstag laut Kathpress in einem schriftlichen Appell Kyrills an die Russinnen und Russen.
Das Kirchenoberhaupt rief dazu auf, die nationale Einheit zu bewahren, zu beten sowie Soldaten und einander mit allen Kräften zu helfen. Kyrill I. erwähnte die Wagner-Miliz mit keinem Wort und sprach auch nicht von einem Aufstand. "Die militärische Konfrontation ist eine Prüfung", betonte er stattdessen. "Heute, wenn unsere Brüder an den Fronten kämpfen und sterben und die Feinde alles tun, um Russland zu zerstören, ist jeder Versuch, Zwietracht im Inneren des Landes zu säen, ein großes Verbrechen, für das es keine Entschuldigung gibt."
Die Behörden der russischen Region Lipezk forderten die Bevölkerung auf, aus Sicherheitsgründen ihre Häuser und Wohnungen nicht zu verlassen. Die Region liegt nördlich der Stadt Woronesch, wo die Söldner-Gruppe Wagner russischen Sicherheitskreisen zufolge die militärischen Einrichtungen kontrolliert. Berichten zufolge ist ein Militärkonvoi der Wagner-Gruppe unterwegs durch die Region Richtung Moskau. Die von Süden nach Moskau führende Autobahn M-4 ist nach Angaben des Gouverneurs der Region Lipezk deshalb gesperrt.
Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow steht nach eigenen Worten bereit, um mit seinen Truppen bei der Niederschlagung der "Meuterei" der Wagner-Kämpfer zu helfen. Der Putin-Verbündete Kadyrow nannte das Vorgehen des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin einen "Dolch im Rücken" und mahnte die russischen Soldaten, sie sollten sich nicht provozieren lassen.
Prigoschin seit Monaten frustriert
Die zu einem beträchtlichen Teil aus russischen Gefängnissen rekrutierten Wagner-Söldner spielten in den vergangenen Monaten vor allem bei der langwierigen und verlustreichen Einnahme der Stadt Bachmut in der ostukrainischen Region eine wichtige Rolle. Gleichzeitig entwickelte sich Söldner-Chef Prigoschin – frustriert über Nachschubprobleme und nach seinen Angaben mangelnde Unterstützung durch Moskau – zu einem der vehementesten Kritiker der militärischen Führung Russlands. Immer wieder attackierte er Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow.
Zuletzt unterlief er sogar Putins Begründung für die Offensive im Nachbarland: "Weshalb hat die militärische Spezialoperation angefangen?", fragte Prigoschin und antwortete sich selbst: "Der Krieg wurde für die Selbstdarstellung eines Haufens Bastarde gebraucht." (APA/AFP/dpa/Reuters)
Luftalarm in der gesamten Ukraine
In der Ukraine ist in der Nacht auf Samstag im ganzen Land Luftalarm ausgelöst worden. Aus mehreren Städten gab es in der Folge Berichte über Explosionen. Im ostukrainischen Charkiw habe es mindestens drei Einschläge gegeben, unter anderem in eine Gasleitung, woraufhin ein Feuer ausgebrochen sei, schrieb Bürgermeister Ihor Terechow auf Telegram. Aus der Hauptstadt Kiew hieß es, Raketenteile seien auf einen Parkplatz in einem zentralen Bezirk gestürzt.
Die Ukraine hat nach eigenen Angaben in der Nacht 41 russische Raketen und zwei Drohnen abgeschossen. Insgesamt hätten die Angreifer 51 Raketen abgefeuert.
Die 16. Etage eines Wohngebäudes neben dem Parkplatz habe zudem Feuer gefangen, schrieb Bürgermeister Vitali Klitschko auf Telegram. Mindestens zwei Menschen seien verletzt worden.
Korrespondenten vom nationalen Rundfunk Suspilne Media berichteten zudem, dass Explosionen auch in den Städten Dnipro und Krementschuk zu hören gewesen seien. Russland hat sein Nachbarland vor 16 Monaten überfallen. Zuletzt hatten sich die Raketen- und Drohnenangriffe vor allem auf die Hauptstadt Kiew gemehrt.
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