Sozialvereine üben scharfe Kritik an Wohnungspolitik im Land
Die Sozialvereine, die sich unter der Wohnungslosenhilfe Tirol organisiert haben, schlagen jetzt Alarm und warnen in einem offenen Brief an die Politik vor steigender Wohnungslosigkeit in Tirol.
Innsbruck – Für Daren Ranalter (Alexihaus), Antonia Rauch (NoRa), Michael Hennermann (Verein für Obdachlose), Julia Schratz (lilawohnt), Peter Grüner (DOWAS/Chill Out), Ingo Ullrich (Mitarbeiter Notschlafstelle Rotes Kreuz) und Andrea Cater-Sax (Tiroler Soziale Dienste) ist es bereits fünf nach zwölf. Vor Corona haben die Träger der Wohnungslosenhilfe in Tirol bereits steigende Zahlen an wohnungslosen Menschen verzeichnet. Aktuell verschärfen die hohen Preise, insbesondere bei Mieten und Betriebskosten, die Situation. Tausende Menschen in Tirol können sich das Wohnen nicht leisten.
Geschlossen fordert die Wohnungslosenhilfe in Tirol ein politisches Bekenntnis zu kurzfristigen Lösungen und langfristigen Entwicklungen. Wohnungslosigkeit darf nicht weiter ein politisches Randthema darstellen. Insbesondere die steigende Zahl an wohnungslosen Familien und erwerbstätigen Menschen ist auffällig. Rund ein Drittel aller Bewohner und Bewohnerinnen der Notschlafstellen in Innsbruck und Tirol könnte sofort in eine Wohnung ziehen, sie brauchen keine spezielle Unterstützung durch die Sozialarbeit. Was fehlt, ist leistbarer Wohnraum.
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„Notunterkünfte sollten vorübergehend genutzt werden und keine Dauerlösung sein. Wer sich am privaten Wohnungsmarkt nicht gut genug behaupten kann, hat keine Anschlussperspektive. Dabei ist Wohnungslosigkeit längst kein gesellschaftliches Randphänomen mehr. Es braucht sowohl kurzfristige als auch längerfristige Strategien um leistbaren, dauerhaften und inklusiven Wohnraum zu schaffen“, erläutert Peter Grüner vom DOWAS/Chill Out.
Die Notschlafstellen der ISD (Herberge und Alexihaus), der TSD (Notschlafstelle Schusterbergweg in Innsbruck, Kufstein, Lienz und NoRa – Notraum für Frauen in Innsbruck) sowie des Roten Kreuzes waren im vergangenen Winter permanent voll. Sie haben im Zeitraum insgesamt rund 574 Menschen eine Notunterkunft mit 84.129 Nächtigungen ermöglicht. „Wir mussten im Laufe des Winters 1206 Menschen abweisen, weil wir voll waren“, beschreibt Ines Obser vom Roten Kreuz die prekäre Situation.
Die Übergangswohnhäuser, Wohngemeinschaften und Betreute Wohnen von DOWAS/Chill Out, lilawohnt, Teestube Schwaz und Verein für Obdachlose haben 2022 insgesamt 286 Wohnplätze zur Verfügung gestellt. „Wenn wir alle unsere Wartelisten zusammenzählen, dann sind es über 100 Frauen mit 90 Kindern, die jetzt einen Wohnplatz brauchen“, erläutert Julia Schratz . „Wohnungslosigkeit ist kein individuelles Versagen, sondern Ausdruck struktureller Mängel – die beste Antwort auf Wohnungslosigkeit ist eine Wohnung“, erklärt Michael Hennermann vom Verein für Obdachlose.
Der offene Brief im Wortlaut
Unser Appell: Wir brauchen dringend leistbare Wohnungen!
Sehr geehrte Landesregierung, sehr geehrte Abgeordnete zum Tiroler Landtag sehr geehrte Stadtregierung Innsbrucks, sehr geehrte Gemeinderäte Innsbruck, sehr geehrte Bürgermeister Tirols, sehr geehrte Sozialpartner!
Die Wohnungslosigkeit in Tirol, insbesondere in den Städten, steigt rapide an. Die Ursachen für diese alarmierende Entwicklung sind komplex, liegen jedoch vor allem in der fehlenden Wohnraumversorgung der öffentlichen Hand. Die explodierenden Mietpreise und die gleichzeitig stagnierenden Erwerbseinkommen bzw. geringen sozialen Transferleistungen bringen das Fass nun zum Überlaufen. Besonders gravierend ist die Situation für Menschen mit niedrigem Einkommen. Sie sind auf das teuerste Wohnsegment angewiesen: den privaten Markt. Der profitorientierte Wohnungsmarkt ist das denkbar schlechteste Mittel, um das Wohnen - ein essentielles Bedürfnis von uns Menschen - zu befriedigen. Was es jetzt rasch braucht, sind mehr Stadt- und Gemeindewohnungen.
Wir, die Arbeitsgruppe Wohnungslosenhilfe Tirol1 , richten einen dringenden Appell an die Entscheidungsträger:innen des Landes, der Stadt Innsbruck und der Gemeinden in den Bezirken: Ergreifen Sie endlich strukturelle Maßnahmen gegen die Wohnungslosigkeit! Es wird Zeit für einen Paradigmenwechsel! Wohnungslosigkeit darf nicht mehr als persönliches Versagen bewertet werden und nicht zum sozialen Ausschluss führen.
All die politischen Versprechungen der letzten Jahre, „leistbares Wohnen“ für die breite Bevölkerung in Tirol umzusetzen, sind nicht eingehalten worden. Die Arbeitsgruppe Wohnungslosenhilfe sieht ihre Rolle nun darin, auf eklatante Mängel hinzuweisen und ihre Erfahrungen aus dem operativen Tätigkeitsfeld beratend an die Politik weiterzugeben. Wir setzen uns für kurzfristig umsetzbare Maßnahmen ein, um die Härten für die Betroffenen abzufedern! Wir fordern außerdem konkrete, langjährige Umsetzungspläne, um die derzeit unsoziale Politik zu beenden!
Steigende Zahl wohnungsloser Menschen
Die Wohnungslosenhilfe in Tirol ist zweifellos sehr breit aufgestellt und verfügt über ein ausdifferenziertes Angebot für Betroffene. Insbesondere in Innsbruck reicht die konkrete Unterstützung von Notschlafstellen, Übergangswohnhäusern, Wohngemeinschaften bis hin zum Betreuten Wohnen. Parallel dazu bieten Sozialberatungsstellen in drei Bezirken Tirols niederschwellige Hilfen an. Trotzdem ist die Anzahl jener Menschen, die Unterstützung suchen, in den letzten Jahren (bereits vor Corona) angestiegen. Besonders auffällig ist der hohe Anteil von Familien mit Kindern und Menschen in Erwerbsarbeit (working poor). Alle Einrichtungen unserer 1 DOWAS Tirol, Innsbrucker Soziale Dienste (ISD), lilawohnt (vormals DOWAS für Frauen), Rotes Kreuz Tirol, Teestube Schwaz, Tiroler Soziale Dienste (TSD), Verein für Obdachlose Arbeitsgruppe berichten von ganzjähriger Vollauslastung bzw. einer hohen Anzahl von Abweisungen und dem Führen langer Wartelisten.
Permanente Vollauslastung – viele Abweisungen
Die Notschlafstellen der ISD (Herberge und Alexihaus), der TSD (Notschlafstelle Schusterbergweg in Innsbruck, Kufstein, Lienz und NoRa –Notraum für Frauen in Innsbruck) sowie des Roten Kreuzes waren im Winter 2022/23 permanent ausgelastet. Sie haben im genannten Zeitraum insgesamt rund 574 Menschen eine Notunterkunft mit 84.129 Nächtigungen ermöglicht. Besonders alarmierend ist, dass täglich Menschen abgewiesen werden mussten, da keine freien Plätze mehr verfügbar waren! Das Rote Kreuz musste im Laufe des Winters 1.206 Menschen wegen Platzmangels abweisen. Die Einrichtung NoRa (Notraum für Frauen) bot 45 Frauen mit 25 Kindern eine befristete Notunterkunft. Aktuell stehen dort 48 Frauen - teilweise mit Kindern - auf der Warteliste. Die Übergangswohnhäuser, Wohngemeinschaften und das Betreute Wohnen von DOWAS/Chill Out, lilawohnt, Teestube Schwaz und Verein für Obdachlose haben 2022 insgesamt 286 Wohnplätze zur Verfügung gestellt. Diese Angebote sind darauf ausgelegt, durch intensive Sozialarbeit die bestehende Wohnungslosigkeit und ihre Folgen in der kürzest möglichen Zeit zu beheben. Auch in diesem Segment kann das Angebot nicht mit dem Bedarf mithalten. Ablösen aus diesen Einrichtungen sind aufgrund des Wohnungsmangels zeitintensiver und schwieriger geworden. Die genannten Zahlen machen uns alle betroffen. Das darf aber nicht zur Annahme verleiten, dass es mit dem Ausbau von Notschlafstellen getan ist. Im Gegenteil, die Zahlen zeigen, wie groß der Mangel an leistbarem, dauerhaftem und inklusivem Wohnraum in Tirol tatsächlich ist. Eine gravierende Folge einer langfristigen Wohnungslosigkeit ist neben der negativen gesellschaftlichen Punzierung auch die Verfestigung der Armut und Arbeitslosigkeit, sowie - in seiner stärksten Ausprägung - die Hospitalisierung der Betroffenen.
1/3 der Betroffenen brauchen eine Wohnung und keine Unterstützungen!
TSD, ISD und Rotes Kreuz als Betreiber:innen der Notschlafstellen betonen ausdrücklich, dass rund die Hälfte aller Bewohner:innen keine speziellen sozialen Unterstützungsleistungen oder Wohnbegleitung brauchen, sondern sich aus ökonomischen Gründen (Armut, Arbeitslosigkeit, fehlende Rechtsansprüche) auf dem Wohnungsmarkt nicht behaupten können. Sie brauchen eine Wohnung und keine sozialpädagogischen Zurufe. Das bedeutet, dass es keinen Sinn macht, weitere Notprogramme auf den Weg zu bringen, wenn leistbare Wohnungen als zentrale soziale Infrastruktur nicht zur Verfügung stehen. Als Folge dieser Entwicklung nimmt der Fluktuationsgrad in den Einrichtungen weiter ab. Es darf nicht sein, dass Notprojekte aufgrund einer verfehlten Wohnpolitik zu Dauereinrichtungen werden. Viele Menschen verharren jahrelang in der Wohnungslosigkeit, oft bis zu ihrem Tod!
Wohnungslosigkeit darf kein gesellschaftliches Randphänomen bleiben Die bisher vorgenommenen politischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit sind in erster Linie reine Symptombekämpfung und lassen gravierende Mängel in der Verschränkung von Wohn- und Sozialpolitik erkennen. Hier wird offenbar der Wohnungslosenhilfe eine Rolle zugesprochen, die sie nicht erfüllen kann: Dort, wo strukturelle Weichenstellungen fehlen, kann auch die beste Hilfe nicht das Grundproblem der Wohnungsnot lösen. Die Wohnungslosenhilfe ist kein geeignetes sozialpolitisches Instrument, um die Unzulänglichkeiten des Wohnungsmarktes zu decken. Dennoch wird sie für bestimmte Zielgruppen immer öfter zum Auffangbecken, anstatt ein Sprungbrett für eine rasche Reintegration zu sein. Im aktuellen Regierungsprogramm ist lediglich die Redevon„dem Bekenntnis zur Unterstützung der Sozialeinrichtungen“.EinzigeAusnahmebildet die Feststellung „Das Angebot an Notwohnungen tirolweit zu evaluieren und im erforderlichen Ausmaß aufzustocken sowie zu beleuchten, inwieweit das Konzept Housing First implementiert werden kann.“ Doch passiert ist bisher nichts. Das ist eindeutig zu wenig und entspricht nicht der von Österreich unterzeichneten Lissaboner Erklärung zur Bekämpfung der Wohn- und Obdachlosigkeit in Europa.
Abschließend appellieren wir noch einmal an Sie persönlich: Setzten Sie sich rasch und aktiv für strategische und langfristige Maßnahmen zur Bekämpfung der Wohnungsnot in Tirol ein! Helfen Sie mit, diese gesellschaftliche Schieflage zu begradigen!