„Träumen und zeichnen“

Traumtanzen in leichten Linien: Ein Blick in Sempés Skizzenbücher

Die Band spielt, das Publikum tanzt: Einfach wirken Sempés Bilder nur auf den ersten Blick.
© Jean-Jacques Sempé/Diogenes

Ein Jahr nach dem Tod von Sempé ermöglicht der Band „Träumen und zeichnen“ den Blick in die Skizzenbücher des französischen Jahrhundertzeichners.

Innsbruck – Vor ziemlich genau einem Jahr, am 11. August 2022, ist der große Cartoonist Jean-Jacques Sempé – Comic-Kenner Andreas Platthaus nannte ihn mit gutem Grund den Porträtisten von Paris und der „France profonde“ – beinahe 90-jährig gestorben. Er hinterließ ein Werk, das schon allein deshalb als zeitlos zu gelten hat, weil Sempé beharrlich darauf verzichtete, seine Zeichnungen zu datieren.

Natürlich lassen sich in manchen Details Hinweise auf den Entstehungskontext finden – Automobile, Kleidung oder der Umstand, dass in Sempés Cafés selbstvergessen gequalmt wurde zum Beispiel. Trotzdem sind Sempés Bilder – seine großen Boulevard-Panoramen, die Strandvergnügungen der fadisierten Jeunesse dorée in Saint-Tropez und die Radfahrten durchs französische Flachland – Zeitbilder von überzeitlicher Allgemeingültigkeit. Und darin entfernte Verwandte der Filme von Jacques Tati, die so offensichtlich aus den 1950er- und 1960er-Jahren stammten – und doch von Hoffnungen und Nöten des Heute handeln. Was Sempé und Tati so alles besprochen haben, würde man gerne wissen. Die Telefonnummer des Filmemachers hat der Zeichner jedenfalls in seinem Skizzen- und Ideenheft notiert. Ohne Datum versteht sich, aber als nach einem Aphorismus von beinahe existenzialistischer Wucht: „Der Mann, der ich bin, blickt voller Melancholie auf den Mann, der ich sein sollte.“ Eine diesen Gedanken illustrierende Zeichnung ist nicht überliefert. Der treffende Abschluss zum neuen, wohl letzten Sempé-Bildband ist er trotzdem.

Mit „Träumen und Zeichnen“ hat ihn Sempés treuer Verlag Diogenes überschrieben. Das passt, weil hier Skizzen des Jahrhundertzeichners präsentiert werden – und damit nachvollziehbar wird, wie sich aus einem, vielleicht auch erträumten, und mit weichem Bleistift oder Kugelschreiber zu Papier gebrachten Einfall so messerscharf getuschte Zeichnungen entwickelt haben.

Sempé war ein Meister des vermeintlich Einfachen – federleicht wirkt seine Linienführung. Erst beim zweiten oder dritten Hinschauen springen die Nuancen ins Auge, die mit zwei Strichen umrissenen Gesichtsausdrücke, die kleinen Gags am Rande des Getümmels, die kühn schraffierten Vorboten dessen, was sich hinterm Horizont zusammenbraut. Wie gesagt: Das alles wirkt einfach. Der Einblick ins Arbeitsbuch macht die Arbeit sichtbar, die in dieser Einfachheit steckt – den Fleiß hinter der konsequenten Reduktion aufs Wesentliche. Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano, einer von gerade einmal drei Autoren, die Sempé als Illustrator ihrer Werke gewinnen konnte – die anderen zwei sind René Goscinny und Patrick Süßkind –, vergleicht die Arbeit des Zeichners in seinem sehr pointierten, leise-melancholischen Vorwort mit wirklich guten Tänzerinnen und Tänzern: Man sieht federleichte Körperkunst – und merkt nichts von der Tortur des täglichen Trainings.

Sempé, der – um den eingangs angeführten Aphorismus etwas auszuleuchten – davon träumte, Jazzmusiker zu werden, hat großartige Probenbilder gezeichnet, von Tänzern, Musikern und ganzen Orchestern. Nun ist es möglich, ihm beim Probieren und seinen Zeichnungen beim Werden zuzuschauen. Ein Abenteuer für Augen und Hirn.

Zeichnungen

Jean-Jacques Sempé: Träumen und Zeichnen. Diogenes, 236 Seiten, 37,10 Euro.

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