Per Zufall gefunden

Unsichtbares Gedicht von W.H. Auden rekonstruiert

Dank ausgeklügelter 3D-Technik konnte an der Technischen Universität Wien ein kaum lesbarer Text des britischen Lyrikers W. H. Auden wiederhergestellt werden.
© APA/ÖAW/DANIEL HINTERRAMSKOGLER

Zufällig stießen Forschende in Wien auf ein bisher unbekanntes Gedicht des Schriftstellers W. H. Auden. Eindrucksstellen des abgetippten Textes auf Briefpapier machten sie darauf aufmerksam. Nun konnte es dank raffinierter 3D-Technik vollständig rekonstruiert werden – eine Pionierarbeit für die digitale Geisteswissenschaft.

Wien – Kurz vor seinem 50. Todestag entdeckten die Literaturhistoriker Sandra Mayer und Timo Frühwirth bei der Digitalisierung des Briefwechsels von W. H. Auden mit der Schriftstellerin Stella Musulin Druckstellen einer Schreibmaschine auf dem Papier. Diese wiesen darauf hin, dass es ein bisher nicht bekanntes Gedicht des britischen Schriftstellers geben muss.

Für Mayer und Frühwirth, Mitglieder der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), ein erfreulicher Zufallsfund. In der Fachzeitschrift Digital Scholarship in the Humanities machten sie publik, dass es sich dabei um eine frühe, signifikant von den ersten Notizen sowie der finalen Fassung abweichende Version des Hochzeitsgedichts „Epithalamium“ handelt, das Auden für seine Nichte schrieb. Bisher hätte diese in der Auden-Forschung gefehlt, so Frühwirth.

Mithilfe von sogenanntem „Photometric Stereo“ gelang ihnen in Zusammenarbeit mit dem Computer Vision Lab der TU Wien die Rekonstruktion des Getippten – ein bahnbrechender Erfolg für die digitalen Geisteswissenschaften. Denn der Fund ermögliche ganz neue Einblicke in künstlerische Schreibprozesse.

Aus verschiedenen Winkeln wird das Papierstück aus dem 20. Jahrhundert belichtet, um die unsichtbaren Buchstaben dreidimensional zu erfassen.
© APA/ÖAW/DANIEL HINTERRAMSKOGLER

Die hier angewandte Technik belichtet aus verschiedenen Winkeln Objekte beispielsweise aus Pergament, die eine fixierte Kamera fotografiert, um sie dreidimensional zu erfassen. Ein Objekt aus dem „Schreibmaschinenzeitalter“ sei zuvor noch nicht auf diese Art untersucht worden, so Meyer.

Wystan Hugh Auden in einer Aufnahme vom Januar 1968. Er war mit Erika Mann, einer Tochter des deutschen Literatur-Nobelpreisträgers Thomas Mann, verheiratet.
© UPI

Weitere 3D-Analysen sind nun für den gesamten österreichischen Auden-Bestand angedacht. Darüber hinaus hoffen die beiden Literaturhistoriker durch ihre Arbeit in den seit der Nachkriegszeit bestehenden „Digital Humanities“ – einem computertechnik-unterstützten Teilbereich der Geisteswissenschaften – inspirierend auf andere Forschende zu wirken. Denn dadurch entstünden ganz neue Fragestellungen.

Der britisch-amerikanische Lyriker W. H. Auden galt als einer der prominentesten Gedichteschreiber im 20. Jahrhundert. 1973 verstarb der einflussreiche Autor und wurde in seiner einstigen Sommerheimat Kirchstetten begraben. (APA, TT.com, jb)

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