Kinofilm „Im letzten Sommer“ wagt sich an Tabu: Affäre einer Frau und ihres Stiefsohns
„Im letzten Sommer“, der erste Film von Regisseurin Catherine Breillat seit zehn Jahren, kommt ins Kino. Eine Frau und ihr minderjähriger Stiefsohn stürzen sich in eine Affäre.
Innsbruck – Catherine Breillat geriet mit ihren Filmen wiederholt in den Clinch mit der französischen Zensurbehörde: zu sexuell explizit! Längere Zeit war dann von der heute 75-jährigen Regisseurin im Kino gar nichts zu sehen und zu hören. Eine zehnjährige Schaffenspause, die auch gesundheitliche Gründe hatte.
2023 wurde Breillat mit ihrem neuen Film „Im letzten Sommer“ (französisch „L’été dernier“) zum Wettbewerb nach Cannes eingeladen. Dort sorgte der Streifen für einiges Raunen und Aufsehen, blieb aber unprämiert. KritikerInnen und Publikum waren uneins, was von dem Neulingswerk zu halten sei. Denn Breillat tastet sich erneut in Tabubereiche vor.
„Im letzten Sommer“ erzählt von der erfolgreichen, taffen Anwältin Anne (beklemmend gut gespielt von Léa Drucker). Die ist Ende 40 und lebt formidabel samt betuchtem Ehemann Pierre (mit dem traurigsten Blick des noch jungen Kinojahres: Olivier Rabourdin) und zwei Adoptivtöchtern in schicker Villa im Grünen.
Die ehelichen Rituale bis hin ins Schlafgemach sind bestens einstudiert. Es ist ein luxuriöses Leben, aber Anne erweckt nicht den Eindruck, glücklich zu sein. Sie wirkt eingesperrt in der Behaglichkeit eines goldenen Käfigs.
Und dann bezieht Théo (großartiges Filmdebut des jungen Samuel Kircher) Quartier im trauten Nobeldomizil. Er ist Pierres Sohn aus erster Ehe, 17 und schwer pubertierend. Seine Mutter hat ihn vor die Tür gesetzt, ebenso seine Schule. Théo hustet auf Manieren und Benimmregeln, er flegelt, pöbelt und stiehlt.
Stark anziehende Gegensätze
Der Kontrast zu seinen biedermeierlichen Quartiergebern könnte größer kaum sein. Doch Gegensätze ziehen sich an. Bei Anne und Stiefsohn Théo wird die Anziehungskraft so stark, dass beide sich in eine Affäre stürzen. Versuche, von einander zu lassen, scheitern – sogar als Théo einen Anwalt einschaltet, der seiner Berufskollegin Anne mit Anzeige droht und ihr eine Art Schweigegeld abknöpft.
Ehemann Pierre bekommt Wind von der Affäre. Doch er glaubt nicht den Beteuerungen seines Sohnes Théo, sondern seiner Frau Anne, die nun alles abstreitet, um Familie und Karriere zu retten.
Regisseurin Breillat verzichtet darauf, moralisierend oder schuldzuweisend den Zeigefinger zu erheben. Auch plakative Sexszenen oder Nacktheit sind nicht ihr Zugang. Die Kamera fokussiert sich in Großaufnahmen auf die Gesichter der Liebenden. In diesen spiegeln sich Lust und Begehren, aber auch Verzweiflung und Traurigkeit. Es ist eine Beziehung, die nicht sein kann, nicht sein darf. Und die trotzdem ist.
Als Betrachter verspürt man wachsende Anspannung: Ein derart sensibles Beziehungsgeflecht muss dem Untergang geweiht sein. Wann bricht es zusammen?
Annes Schwester ertappt das Liebespaar in flagranti – und schweigt sich darüber aus. Auch Pierre scheint die Behauptungen seiner Ehefrau („Alles nur erfunden!“) immer mehr anzuzweifeln. Doch er arrangiert sich damit, mit einer Lüge zu leben.
„Im letzten Sommer“ glänzt schauspielerisch. Inhaltlich ist der Film aufwühlend und verstörend, weil er keinerlei Lösung anbietet.
Im letzten Sommer
Ab 11. Jänner im Kino.