„All of Us Strangers“ mit Andrew Scott: Magische Momente im Früher und Heute
Sinnlichkeit, Sentiment und Sentimentalität: In Andrew Haighs betörend schönem Liebes- und Geisterfilm „All of Us Strangers“ flüchtet sich ein Mann in die Vorstadt seiner Kindheit.
Innsbruck – Adam ist Ende vierzig und schreibt Drehbücher fürs Fernsehen. Er wohnt in einem Hochhaus in London. Er ist schwul und einsam. Selbst wenn ihn der Feueralarm auf die Straße treibt, steht er allein da. Den Nachbarn Harry (Paul Mescal), der eines Nachts mit teurem Whiskey und viel Lust im Blick vor der Tür steht, wimmelt er ab. Aber die Isolation bröckelt. Adam und Harry werden sich noch näher kommen, ein Paar werden – gute und ziemlich ungute Zeiten erleben. Auch die Geschichte von Adam und Harry erzählt dieser Film. Vor allem aber ist es Adams Geschichte, um die es geht.
🎬 Trailer | All of Us Strangers von Andrew Haigh
Der Film heißt „All of Us Strangers“. Inszeniert und geschrieben hat ihn Andrew Haigh, der schon 2015 mit „45 Years“ eindrücklich unter Beweis stellte, dass er es versteht, das in Klischees und Oberflächlichkeiten erstarrte Genre des Liebesfilms sehr bestimmt und unheimlich bewegend gegen den Strich zu bürsten.
Adam jedenfalls – Andrew Scott, einst Fiesling in der „Sherlock“-Serie und „heißer Priester“ in „Fleabag“, spielt ihn als großen Grübler mit zunächst knüppelharten Gesichtszügen – flüchtet vor seiner Schreibblockade aufs Land. Und „All of Us Strangers“, das zarte Drama zweier Männer, die, wie es so schön heißt, ihr Packerl zu tragen haben, wird zum Geisterfilm.
Treffen mit den toten Eltern
Adam fährt in die Vorstadt seiner Kindheit. Er trifft seinen Vater (Jamie Bell, einst der toll tanzende „Billy Elliot“) und folgt ihm nach Hause. Auch seine Mutter (Claire Foy, die junge Königin aus „The Crown“) ist da. Beide sind schon vor Jahren gestorben – und daher inzwischen jünger als ihr Sohn. Sie reden. Sie sprechen sich aus – über versteckte Homosexualität, offene Homophobie, Vorurteile und Stolz. Über verpasste Chancen reden sie, vergebene Möglichkeiten, Trauer, Schweigen und das Sterben, über „The Power of Love“ und die Schmerzen, die Liebe bedeuten kann.
Magisch entrückt sind diese Momente, die Farben sind warm, das Licht ist weich. Wie Adam vor seinen jungen Eltern vom mittelalten Steinblock zum strahlenden Buben wird, ist beeindruckend: Große Augenblicke ganz kleiner Gesten. Betörend schön wird in „All of Us Strangers“ Trauerarbeit erforscht. In diesen Momenten ist der Film – keine Frage – durchaus rührselig. Das Kino wird zur großen Emotionsmaschine.
Befeuert durch die Pop-Musik von damals
Andrew Haigh, der sich bei seiner Erzählung sehr lose am 1987 erschienenen japanischen Roman „Sommer mit Fremden“ von Taichi Yamada orientiert, versteht es, die richtigen Knöpfe zu drücken. Gegenwart und Vergangenheit kippen – nicht zuletzt befeuert durch Pop-Musik von damals – ineinander: Das Kofferwort aus Euphorie und Melancholie, mit dem sich das, was „All of Us Strangers“ erzählt, beschreiben lässt, muss noch gebildet werden.
Der Film jedenfalls geht einem nahe. Wirklich entziehen will man sich der Verschmelzung von Sinnlichkeit, Sentiment und Sentimentalität von „All of Us Strangers“ nicht. Das sollte man auch nicht. Man würde etwas verpassen.
All of US Strangers
Ab 14 Jahren. Derzeit in in den Kinos.
Mit Andrew Scott, Paul Mescal, Claire Foy und Jamie Bell.
Regie und Drehbuch: Andrew Haigh.