Weltbevölkerung steigt schneller und früher als erwartet: Zehn Milliarden werden wohl geknackt
Unter „realistischstem“ Szenario für die Entwicklung der Weltbevölkerung wird die Zehn-Milliarden-Menschen-Grenze um 2065 durchstoßen, geht aus neuen österreichischen Prognosen hervor. Die Geburtenraten gehen dabei mit einem höherem Bildungsniveau nicht wie erwartet zurück.
Wien – Unter dem „realistischsten“ Szenario für die gesellschaftliche, wirtschaftliche und Klima-Entwicklung der Erde würde um das Jahr 2065 die Zehn-Milliarden-Menschen-Grenze überschritten. Das ist ein Ergebnis neuer, umfassender Prognosen von österreichischen Demographen. Bis zum Jahr 2100 gebe es demnach nur einen leichten Rückgang. Das liege vor allem daran, dass ein insgesamt höheres Bildungsniveau die Geburtenzahlen in einigen Weltregionen weniger drückt als erwartet.
Stärkere Erderwärmung bleibt Unsicherheit
In dem Arbeitspapier geht man von dem aus heutiger Sicht wahrscheinlichsten Szenario aus, bei dem sich die Einkommensverteilung weltweit weiter auseinander entwickelt, die internationale Kooperation sich nur geringfügig verbessert, sich die Umweltsituation entsprechend weiter verschlechtert und die Weltbevölkerung moderat wächst. Allerdings: Es gibt auch andere Szenarien, in denen die Welt etwa auf dem „fossilen Weg“ bleibt, was eine deutlich stärkere Erderhitzung und eine entsprechend markante Abnahme der Weltbevölkerung bedeuten würde.
Laut den Demographen würde es unter der wahrscheinlichsten Annahme ausgehend von den aktuell geschätzten etwas über acht Milliarden Menschen weltweit zu einer sich zwar abschwächenden, aber lange anhaltenden Zunahme der Bevölkerung kommen. Im Zeitraum 2065 bis 2070 würden der Prognose zufolge erstmals knapp mehr als zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben.
Seinen Höhepunkt erreicht die Entwicklung demnach zwischen 2080 und 2085 mit rund 10,13 Milliarden Erdenbürgern. Bis zum Ende des Jahrhunderts sei dann mit einer Abnahme auf rund 9,88 Milliarden Menschen zu rechnen. Asien hätte dann knapp 4,5 Milliarden Einwohner, Afrika über 3,5, Europa läge bei 671 Millionen, Latein- und Nordamerika bei 669 bzw. 450 Millionen und Ozeanien bei 62 Millionen.
Kriege, Migration und Corona
Damit liegen die Werte ein gutes Stück über der Prognose aus dem Jahr 2013 als man von einem weltweiten Allzeithoch um 9,4 Milliarden um das Jahr 2070 und rund 8,9 Milliarden Menschen um 2100 ausging. In der Überarbeitung von 2018 lag man mit den Zahlen schon etwas höher.
Die Analyse von vor zehn Jahren basierte vielfach noch auf Statistiken aus dem Jahr 2010. Seither habe etwa der Klimawandel deutlich Fahrt aufgenommen, dazu kamen neue Kriege und Unruhen, die die Migrationsströme veränderten, und nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie, die eine weltweit spürbare Übersterblichkeit mit sich brachte. In den neuen Langzeit-Berechnungen ist aber selbst Covid nur eine kleinere Delle in der nach oben zeigenden Gesamtentwicklung. Die Lebenserwartung nimmt seitdem wieder zu, betonte Anne Goujon vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA).
Geburtenraten sinken langsamer als erwartet
Die relativ großen Unterschiede zu den früheren Prognosen erklären sich vor allem darin, dass in vielen Ländern des Südens die Kindersterblichkeit glücklicherweise stärker als erwartet reduziert werden konnte. Zum Beispiel im südlichen Afrika ist dies „das Resultat von Impfkampagnen, internationaler Hilfe und verbesserter Hygiene“, so die Demographin.
Dazu komme, dass man eigentlich davon ausging, dass die Geburtenraten mit dem tendenziell steigenden Bildungsniveau in vielen dieser Staaten stärker zurückgehen würden als zuletzt beobachtet. In manchen Ländern habe sich hier wenig verändert: „Das haben wir nicht vorhergesehen.“ So wurde etwa in Pakistan 2017 zum ersten Mal seit den 1990ern eine Volkszählung durchgeführt – mit dem Ergebnis, dass man die Annahmen zur dortigen Bevölkerung bis 2100 gleich um ganze 150 Millionen anheben musste, auch weil die Geburtenraten dort kurz sogar hinaufgingen.
Die Mechanismen dahinter sind vielfach noch unklar: So könnte es sein, dass sich der Effekt erst verzögert einstellt. Wenn etwa viele Frauen zwar im Schnitt mehr Bildung erfahren, dann aber keine adäquaten Arbeitsstellen finden, führt das vielleicht wieder dazu, dass sie in traditionellen Strukturen mit vielen Kindern landen, so Goujon.
Erderwärmung bleibt Knackpunkt
Spekuliert würde auch über kulturelle Faktoren, wie sich persistent haltende Vorstellungen zur idealen Kinderanzahl – „ich bezweifle das aber“, sagte die Forscherin, die mittelfristig auch mit einer Abnahme der Fertilitätsrate im globalen Süden rechnet, von der man aber noch nicht sagen könne, wie schnell sie vonstatten geht.
Vorausgesetzt die Erderhitzung macht viele Gegenden nicht mehr oder weniger unbewohnbar, stehen die Zeichen nun darauf, dass die Erde zumindest einige Zeit mehr als zehn Milliarden Leute beherbergt. Das alleine sei kein Anlass zur Panik, erklärte die Forscherin: „Ich fürchte mich nicht vor der Anzahl an Menschen sondern davor was sie tun.“ Wenn es die Welt bis dahin hinbekomme, nachhaltiger, innovativer, gemeinschaftsorientierter und umweltbewusster zu leben, sei das machbar. „Ich glaube an die Intelligenz des Menschen“, so Goujon.
In ihrem Arbeitspapier haben die Wissenschafterinnen und Wissenschafter des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien und vom Wiener Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (WIC) ihre bereits im Jahr 2013 erstellte Prognose zur Entwicklung der Weltbevölkerung nach 2018 nun zum zweiten Mal überarbeitet. (TT.com, APA)