Erinnerungen an das Lager Reichenau

Am Stadtrand von Innsbruck in der Reichenau befand sich während des Zweiten Weltkrieges ein Arbeitserziehungslager der Gestapo. Walter Winterberg war dort als politischer Gefangener inhaftiert.

Von Nikolaus Paumgartten

Innsbruck –„Wir waren in der Waschbaracke. Harm (Mitglied der Wachmannschaft, Anm.) hat einen Häftling hereingeschleppt, der hat sich ausziehen müssen und er hat ihn mit dem Schlauch abgespritzt (...). Der Häftling hat gebrüllt wie am Spieß (...). Das Abspritzen ist öfter vorgekommen, ich kann nicht sagen, wie oft, aber ein- bis zweimal in der Woche ist das schon passiert.“

Es ist eine der vielen grausigen Erinnerungen von Walter Winterberg an den Winter des Jahres 1944 im Lager Reichen­au.

Winterberg wurde 1924 in Wien geboren. 1942 wurde er als „jüdischer Mischling“ zur Technischen Nothilfe (Luftschutzdienst) zwangsverpflichtet. Im Weihnachtsurlaub 1943 beschloss er, über die Schweiz nach Frankreich zu fliehen, um dort die Resistance, den Widerstand, zu unterstützen. Kurz vor der Grenze in Vorarlberg wurde er aufgegriffen, in das Polizeigefängnis Innsbruck gebracht und schließlich im Jänner 1944 in das Lager Innsbruck-Reichenau als Gestapo-Häftling überstellt.

Das Lager wurde Ende 1941, Anfang 1942 als Arbeitserziehungslager (AEL) in Betrieb genommen, wie Matthias Breit, dessen Vater ebenfalls als politischer Häftling in der Reichenau inhaftiert war und dessen Sohn sich im Zuge einer Fachbereichsarbeit mit der Geschichte des Lagers beschäftigt hat, erzählt. Es war einerseits als Auffanglager für jene im Deutschen Reich zur Zwangsarbeit verpflichteten italienischen Arbeitskräfte vorgesehen, die einen so genannten „Arbeitsvertragsbruch“ begangen hatten und zurück in ihre Heimat abgeschoben werden sollten. Andererseits diente es als Einrichtung zur Bestrafung von Zwangsarbeiter – etwa aus dem Osten – die „arbeitsvertragsbrüchig“ wurden. Sie sollten in dem Lager „zur Arbeit erzogen“ werden, ohne sie dem Arbeitsmarkt längerfristig zu entziehen. Wenn also ein Zwangsarbeiter geflüchtet ist, wurde er von der Gestapo aufgegriffen und kam zur Bestrafung ins AEL Reichenau. Von dort aus wurden die Inhaftierten zu diversen Arbeitseinsätzen eingeteilt. Weil Arbeitskräfte im Deutschen Reich Mangelware waren, forderten etwa heimische Firmen Personal beim Arbeitsamt an, welches wiederum unter anderem Reichenau-Häftlinge zum Arbeitseinsatz zuteilte.

Ab Dezember 1943 waren die Häftlinge auch als Räumungskolonnen nach Bombenangriffen auf Innsbruck im Einsatz. Weiters diente das Lager Reichenau als Zwischenstation für italienische und Südtiroler Juden in die Konzentrationslager.

1943 wurde eine Gefängnisbaracke für politische Gefangene der Gestapo errichtet – Angehörige des Tiroler und des katholisch-monarchistischen Widerstandes waren dort inhaftiert.

Walter Winterberg, der wegen Fluchtgefahr nicht für die so genannten „Außenkommandos“ zugelassen war, blieb bis April 1944 im Lager Reichenau und wurde schließlich ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Er überlebte das KZ und sagte 1958 als Zeuge gegen den ehemaligen Leiter des Lagers Reichenau, Georg Mott, aus. Dieser wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, später jedoch begnadigt. Walter Winterberg machte Karriere als Jurist bei der Kriminalpolizei in Wien, wo er heute noch lebt.

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Das Lager Reichenau diente nach dem Krieg zunächst als Unterkunft für die Menschen fern ihrer Heimatländer, später dann als Zuhause für sozial- und einkommensschwache Menschen. Erst in den 70er-Jahren wurden die letzten Baracken abgerissen. Heute erinnert eine Gedenktafel beim Recyclinghof Rossau an das Lager.

Bis dato unveröffentlichte Erinnerungen von Walter Winterberg an seine Zeit im Lager Reichenau sind am kommenden Montag in der Thalia Wagnerschen in Innsbruck zu hören. Matthias Breit präsentiert ab 19 Uhr im Rahmen eines Hörabends mit anschließender Diskussion die Tondokumente.