Spiegelungen der Scheinheiligkeit
Stephen Frears erzählt in „Philomena“ die wahre Geschichte eines Mädchens, das in den 50er-Jahren in einem irischen Kloster das Opfer von Bösartigkeit wird und 50 Jahre auf Wiedergutmachung warten muss.
Von Peter Angerer
Innsbruck –Als Peter Mullan mit seinem Regiedebut „The Magdalene Sisters“ in Venedig den Goldenen Löwen gewann, diffamierten Vatikan und katholische Medien den Film als teuflisches Machwerk, in dem Lügen über irische Klöster verbreitet wurden. Dabei erzählte Mullan nur, wie vergewaltigte Mädchen als Verführerinnen in den profitablen Wäschereien der Magdalenenheime versklavt, wie unverheiratete Mütter ihrer Kinder beraubt wurden. Das war 2002 das erste Signal für die Verantwortlichen, belastende Dokumente zu vernichten. Erst 2009 musste Irlands mächtige Kirche Missbrauch und Verfehlungen zugeben, nachträglich wurde Mullans Film sogar eine Verharmlosung der Verhältnisse vorgeworfen.
2002 fand die pensionierte Krankenschwester Philomena Lee immerhin den Mut, ihrer Familie zu gestehen, dass sie einen Sohn habe, der 1952 unter schmerzhaften Umständen in einem irischen Kloster zur Welt gekommen war. Die Nonnen betrachteten die Steißgeburt als „Strafe Gottes“, denn Philomena war für sie ein „gefallenes Mädchen“. Die junge Mutter musste unentgeltlich in einer der Wäschereien arbeiten, drei Jahre später wurde der Bub an eine amerikanische Familie verkauft. Davon erfährt die Frau allerdings erst 50 Jahre später, als sie den prominenten Journalisten Martin Sixsmith bittet, ihren Fall zu recherchieren. Sixsmith ist 2002 als Bauernopfer der Regierung von Tony Blair selber ein gefallener Engel, der mit seinem Selbstwertgefühl hadert. Der Russlandspezialist und ehemalige BBC-Star hatte eben eine Romansatire („Spin“) über seine Erfahrungen im Zentrum der Macht veröffentlicht und der seltsam frommen Frau aus Irland begegnet der Oxfordmann vorerst mit Verachtung („das traurige Ergebnis des lebenslangen Umgangs mit Reader’s Digest und Kitschromanen!“), aber auch mit Empathie, die über professionelles Interesse hinausgeht. 2009 erschien sein Buch „Lost Child Of Philomena Lee“, das der Schauspieler Steve Coogan zu einem Drehbuch bearbeitete und das in seiner Komplexität nur ein Regisseur wie Stephen Frears („Die Queen“) bewältigen konnte. „Philomena“ ist Politthriller und erschütterndes Drama, das davon erzählt, was Bosheit, Engstirnigkeit und der Glaube, im Besitz von Wahrheit und Erhabenheit zu sein, mit Menschen – Tätern und Opfern – anrichten können.
Da die Archive in Irland auch Sixsmith (Steve Coogan) verschlossen bleiben, versucht er mit Philomena (Judi Dench) den umgekehrten Weg. In den Vereinigten Staaten zählt Akteneinsicht zu den Bürgerrechten, daher erfahren der Journalist und die unglückliche Mutter bald, wie sich der Ire Anthony in den Amerikaner Michael verwandelt hat. Michael hat sogar Karriere gemacht. Er wurde ein Hoffnungsträger der Republikaner und Rechtsberater der Präsidenten Reagan und Bush Senior. Allerdings musste sich Michael als Schwuler verstecken und als unter Ronald Reagan die Mittel für die Aidsforschung gestrichen wurden, geriet das Leben des Verstellungskünstlers außer Kontrolle. 1995 starb Michael, der sich sein Leben lang bemüht hatte, seine Mutter zu finden, an der „Schwulenseuche“, die von den Republikanern als „Strafe Gottes“ betrachtet wurde. Stephen Frears inszeniert diese Spiegelungen ohne Pathos, wie sich auch die wunderbare Oscarfavoritin Judi Dench rührseligen Gesten für die Darstellung der Ohnmacht ihrer Figur verweigert. Es sind dann auch eher Tränen des Zorns, die „Philomena“ hervorruft. Tausende Kinder wurden in irischen Klöstern buchstäblich versteigert. Die Interessenten mussten nur katholisch sein und über Barmittel verfügen. Eine prominente Käuferin war der Filmstar Jane Russell.