Politischer Kuhhandel um EU-Spitze
Auf dem EU-Gipfel in Brüssel soll heute Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident nominiert werden – trotz britischen Widerstands. Auch das Feilschen um die übrigen Spitzenposten ist voll im Gange.
Von Christian Jentsch
Brüssel –Bei der Gedenkfeier im flämischen Ypern für die Opfer des Ersten Weltkrieges zeigten sich die 28 Staats- und Regierungschefs der EU gestern Abend noch geeint. Doch spätestens heute werden die Risse innerhalb der Union nicht mehr mit einem Lächeln überdeckt werden können. Nach wochenlangem Streit und politischen Tauschgeschäften soll heute beim EU-Gipfel in Brüssel der Konservative Jean-Claude Juncker als künftiger Präsident der EU-Kommission gekürt werden.
Wobei Juncker vor allem in den eigenen konservativen Reihen auf Widerstand stößt. Der britische Premier David Cameron wird sich weiterhin gegen die Nominierung Junckers querlegen und eine Kampfabstimmung herbeiführen – ein Novum in der Geschichte der EU, bislang wurden Kommissionschefs immer einvernehmlich nominiert. Für Cameron ist Juncker, der als Urgestein der EU die politische Einigung der Union vorantreiben will, ein rotes Tuch. An der Seite von Cameron dürfte auch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban gegen Juncker stimmen. Die Regierungschefs von Schweden und den Niederlanden, Frederik Reinfeldt und Mark Rutte, haben ihre Bedenken gegen den früheren luxemburgischen Premier aufgegeben.
Die große Mehrheit der 28 Staats- und Regierungschefs der EU – darunter auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Österreichs Kanzler Werner Faymann – steht jedenfalls hinter Juncker, der als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) die Europawahlen Ende Mai gewinnen konnte. Eine klare Mehrheit für das EU-Urgestein scheint somit sicher. Das Europaparlament, welches den nächsten EU-Kommissionspräsidenten bei seiner zweiten Sitzung Mitte Juli wählen will, hat sich bereits deutlich hinter Juncker gestellt.
Formal wird am EU-Gipfel lediglich über den neuen Kommissionspräsidenten abgestimmt. Doch natürlich ist auch das Gerangel um die weiteren EU-Spitzenposten längst entbrannt. Es geht um den neuen Ratspräsidenten, den künftigen Außenbeauftragten und auch um den neuen Chef der Eurogruppe. Bei den Treffen der beiden großen Parteifamilien, der Europäischen Volkspartei (EVP) und der Sozialdemokraten (SPE), wurden bereits im Vorfeld des Gipfels die Weichen gestellt. Abgesegnet werden sollen die weiteren EU-Spitzenpersonalien dann auf einem Sondergipfel Mitte Juli.
Ein kompliziertes Unterfangen, schließlich muss ein Ausgleich zwischen Konservativen und Sozialdemokraten, großen und kleinen EU-Ländern, Männern und Frauen gefunden werden. Sollte die Kommissionsspitze nun tatsächlich mit dem Konservativen Juncker besetzt werden, wollen die Sozialdemokraten im Gegenzug den Posten des EU-Außenbeauftragten, möglicherweise auch den Ratsvorsitz. Als Nachfolgerin der dezeitigen EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton wird die italienische Außenministerin Federica Mogherine gehandelt. Für den Ratsvorsitz wurde zuletzt die dänische Regierungschefin, die Sozialdemokratin Helle Thorning-Schmidt, genannt. Sie könnte das Amt von Herman Van Rompuy übernehmen. Allerdings gilt es als unwahrscheinlich, dass Sozialdemokraten gleich beide Spitzenposten bekommen. Als EU-Außenbeauftragte kommt deshalb auch die jetzige EU-Kommissarin für humanitäre Hilfe, die Bulgarin Kristalina Georgiew, in Frage. Als Eurogruppen-Chef wird der spanische Wirtschaftsminister Luis de Guindos, ein Konservativer, gehandelt. EU-Parlamentspräsident für die ersten zweieinhalb Jahre soll weiterhin der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz werden. Für die nächsten zweieinhalb Jahre wäre dann ein Konservativer an der Reihe, wobei zuletzt auch immer wieder ÖVP-Delegationsleiter Othmar Karas, derzeit Vizepräsident, ins Gespräch gebracht wurde. Dieser liebäugelt allerdings auch mit einem Kommissionsposten.