„Österreich ist frei!“: Das Tauziehen um den Staatsvertrag
Vor 60 Jahren wurde der Staatsvertrag ausverhandelt. Das jahrelange Tauziehen mit den Besatzungsmächten wurde einerseits von der „Deutschland-Frage“, andererseits vom Kalten Krieg überschattet
Von Rolf Steininger
Der 15. Mai 1955 ist einer der wichtigsten Tage in der Geschichte der Zweiten Republik. An diesem Tag, einem Sonntag, unterzeichneten die Außenminister der vier Besatzungsmächte Sowjetunion, USA, Großbritannien und Frankreich sowie Österreich um 11.30 Uhr im Marmorsaal des Wiener Schlosses Belvedere den österreichischen Staatsvertrag, der dem Land zehn Jahre nach Kriegsende die staatliche Souveränität und Unabhängigkeit zurückgab. Außenminister Leopold Figl beendete seine Dankesrede mit dem unvergesslichen Satz: „Österreich ist frei!“
Warten dauerte 10 Jahre
Es war ein Ereignis, auf das Österreich zehn Jahre gewartet hatte. In der Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 hatten die späteren Sieger die Wiederherstellung eines unabhängigen, freien Österreichs nach Kriegsende zugesagt. Aber dazu war es dann nicht gekommen, weil „der Schatten der deutschen Frage“ auf das österreichische Problem fiel, wie Österreichs Außenminister Karl Gruber das 1947 einmal formuliert hatte. Dieser Schatten wurde noch überlagert von dem noch größeren Schatten des Kalten Krieges. In diesem Kalten Krieg spielte Österreich eine wichtige Rolle. Es war das „strategische Zentrum, um das es einen politischen Kampf geben wird, dessen Ergebnis das wirtschaftliche Wohlergehen und die Stabilität Südosteuropas beeinflussen wird, einem Spannungsgebiet, wo der Erste und Zweite Weltkrieg ihren Ausgang nahmen und wo die Gefahr für neuerliche Konflikte entstehen kann“, wie es im State Department in Washington hieß.
Dabei ging es vordergründig um zwei Fragen: die jugoslawischen Gebietsforderungen an Österreich – von den Sowjets unterstützt – und das „deutsche Eigentum“ in Österreich, das die Sowjetunion als Reparationsleistung für sich beanspruchte. Als es 1948 zum Bruch zwischen Stalin und Jugoslawiens Tito kam, war das auch das Ende der sowjetischen Unterstützung. Alles sah nach einer Lösung der „Österreich-Frage“ aus. Die Westmächte akzeptierten im Mai 1949 die sowjetischen Forderungen: Österreich sollte 150 Mio. US-Dollar – nach heutigem Wert 1,5 Mrd. – für das „deutsche Eigentum“ in Österreich zahlen, innerhalb von sechs Jahren. Sie akzeptierten ferner die sowjetische Forderung nach 60 Prozent der österreichischen Erdölförderung für einen Zeitraum von 30 Jahren sowie 60 Prozent der Ölförderrechte für eine Suchdauer von acht Jahren und eine Ölförderung von weiteren 25 Jahren ab Fündigwerden. Die stellvertretenden Außenminister wurden angewiesen, bis zum 1. September 1949 einen Vertragsentwurf fertigzustellen. Den gab es dann zwar, aber es wurde nichts unterschrieben. Dies war nicht zuletzt auf die Schwierigkeiten in Washington zurückzuführen. Das State Departement war für den Abschluss, das Pentagon dagegen. Als sich US-Präsident Harry S. Truman schließlich für den Abschluss entschied, war es zu spät, Stalin war nicht mehr interessiert.
Die Weltlage hatte sich verändert: Der Kremlchef hatte die Gründung der Bundesrepublik Deutschland nicht verhindern können, er hatte seit August 1949 „seine“ Atombombe und in China hatten die Kommunisten unter Mao gesiegt. Die Frage, ob dieser Vertrag noch akzeptabel war oder für Österreich auf lange Sicht das Ende bedeutet hätte, spaltete damals das Land in zwei Lager. Das Wort von Bundespräsident Karl Renner, er würde den Tag der Unterzeichnung dieses Vertrages zum Staatstrauertag erklären, dürfte aber gerade auch aus nachträglicher Sicht nicht nur leichtfertig hingesprochen worden sein.
In den folgenden Jahren bewegte sich nichts in der Österreich-Frage. Es war offensichtlich so, wie es der wohl bekannteste amerikanische Diplomat und Russlandkenner, George F. Kennan, 1952 formulierte: „Für die Sowjets ist Österreich eine Trumpfkarte, die sie möglicherweise erst ausspielen werden, wenn die Lösung der deutschen Frage definitiv ansteht“ – das heißt, die militärische Integration der Bundesrepublik in den Westen bevorsteht. Die Bundesrepublik sollte bekanntlich Mitglied der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft EVG mit 500.000 Soldaten werden. Diese Lösung aber ließ auf sich warten. Frankreich verzögerte die Ratifizierung des entsprechenden Vertrages.
Auf der Außenministerkonferenz in Berlin im Frühjahr 1954 war der sowjetische Außenminister Molotow dann zwar für den Staatsvertrag, forderte aber gleichzeitig bis zum Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland die weitere Präsenz sowjetischer Truppen in Österreich. Das war unannehmbar.
Das österreichische Verhandlungsteam unter Führung von Leopold Figl machte in Berlin einen hervorragenden Eindruck, wie US-Unterstaatssekretär Livingston Merchant später in den USA berichtete: „Sie begegneten Molotow mit ganz außergewöhnlichem Mut. Sie gaben nicht nach; sie gingen nicht in die Falle, mit Molotow hinter den Kulissen bilaterale Gespräche zu führen; sie brachten ihr Anliegen vor und wurden niedergestimmt; sie verließen den Verhandlungssaal mit Würde.“
Immerhin sprachen Molotow und sein amerikanischer Kollege John Foster Dulles in Berlin hinter verschlossenen Türen erstmals über eine mögliche Neutralität Österreichs. Dieser Gedanke wurde dann im Frühjahr 1955 von den Sowjets aufgegriffen – als klar war, dass nach dem Scheitern der EVG die Bundesrepublik als „Ersatz“ Mitglied der NATO werden würde. Moskau spielte jetzt die Österreichkarte. Der britische Außenminister Anthony Eden stellte im März 1955 die Frage, ob die Sowjets „damit das Gespräch über Deutschland neu beginnen und damit versuchen wollen, uns Ärger in Deutschland zu machen?“ Mit anderen Worten: Sagten die Sowjets Österreich und meinten Deutschland? War die Neutralitätslösung für Österreich auch als Modell für Deutschland gedacht? Eine Frage, die auch heute noch kontrovers diskutiert wird.
Dann folgte die sowjetische Einladung an Bundeskanzler Julius Raab nach Moskau. Den Sowjets, so Raab, gehe es mit ihrer Österreichinitiative letztlich um ein neutrales, wiedervereintes Deutschland. Der erste Schritt dazu sei die Neutralisierung Österreichs. Raab fuhr gegen massive Bedenken des Westens (Foreign Office: „Die Österreicher sind keine Gegner für die Russen.“) nach Moskau. Die Sowjets wollten jetzt eine Lösung, „zu gut, um wahr und ehrlich gemeint zu sein“, wie der britische Botschafter in Wien kommentierte. Die Briten waren inzwischen davon überzeugt, dass es den Sowjets vor allem darum ging, „die öffentliche Meinung in Deutschland durch die Aussicht zu beunruhigen, dass die Wiedervereinigung möglich ist, vorausgesetzt, Deutschland ist neutral“, wie es im Foreign Office in London hieß.
Einladung nach Moskau
Diese Befürchtungen wurden noch verstärkt, als die Sowjets Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Moskau einluden. Falls die Sowjets gehofft hatten, mit dem Kanzler ins Geschäft zu kommen, so wurden sie gründlich enttäuscht. Für Adenauer gab es kein Ausscheren aus der NATO, keine Österreichlösung für ein vereintes Deutschland. Deutschland blieb geteilt. Österreich aber war nach zehn Jahren Besatzung endlich frei. Zu dem, was da am 15. Mai 1955 in Wien unterschrieben worden war, hatte Adenauer seine eigene Meinung: Für ihn war dies „die ganze österreichische Schweinerei“.