„Europäer haben keine Frustrationstoleranz“
Die Philosophin Ágnes Heller erklärt, was die Vereinigten Staaten Europa voraushaben und warum sie sich nie davor gescheut hat, Regime zu kritisieren und Regierende zurechtzuweisen.
Sie wurden in Ungarn politisch verfolgt und emigrierten 1976 nach Australien. Jetzt werden Sie in Ihrem Geburtsland für Ihre Kritik an Regierungschef Viktor Orbán wieder verurteilt. Was empfinden Sie da?
Ágnes Heller: Dass ich im Kádár-Regime verfolgt wurde und mich die heutige Regierung wieder als Feind bezeichnet, liegt an meinem Charakter. Ich bin nicht sehr kompromissfähig, was solche Systeme angeht. Ich konnte schon in der Schule Autorität nicht ertragen. Wenn mir eine Autorität etwas befiehlt, dann widerstehe ich diesem Befehl. Ich habe Durst nach Freiheit. Alles, was die Freiheit vermindert, empört mich.
Die Opposition in Ungarn war in den 70er-Jahren sehr klein. Die Menschen fürchteten sich nach der Niederschlagung des Volksaufstands 1956, sie fürchteten sich vor den Gefängnissen, davor die Arbeit zu verlieren, sie fürchteten sich vor allem. Ich habe mich nicht gefürchtet. Ich konnte es einfach nicht tolerieren und wollte keine Kompromisse eingehen. Damals musste ich tapfer sein, um meine Meinung kundzutun. Da stand die Polizei vor der Tür, mein Mann wurde weggeschleppt und eingesperrt. Heute brauche ich nicht tapfer zu sein, um zu sagen, was ich von Orbán halte. Die Situation ist einfach nicht vergleichbar. Die Orbán-Regierung ist kein totalitäres Regime, auch wenn es eine limitierte Demokratie sein mag, wo die Freiheit stark eingeschränkt wird.
Sie bezeichneten Orbáns Politik einmal als Bonapartismus. Was verstehen Sie darunter?
Heller: Bonapartisten sind jene, die alle Macht auf sich konzentrieren wollen. Und die glauben, dass alle, die Widerstand leisten, überflüssig sind. Ein neues Grundgesetz hier, ein neues Wahlrecht da – das dient nur ihrem Machterhalt. Diese Züge sind allen Bonapartisten gleich, auch wenn sie sich sehr wohl darin unterscheiden können, ob sie die Opposition nun töten oder nur von Entscheidungen ausschließen.
Sie sehen den Bonapartismus als Gefahr für Europa. Inwiefern?
Heller: Europäer haben keine Frustrationstoleranz. Solange ökonomisch alles stimmt und ihren Kindern eine wunderbare Zukunft bevorsteht, finden sie die Demokratie wunderbar. Aber wenn es kriselt, schreien sie schnell nach einem Führer. Das ist europäische Tradition. Ebenso wie zu glauben, dass andere – die Feinde – daran schuld sind. Die Feinde, das können die Bolschewisten, die Kapitalisten, das können die Juden sein. Diese Feinde werden dafür verantwortlich gemacht, dass sie leiden. Und sie wählen die Extremen – rechte wie linke. In den USA ist das nicht so, dort ist gar nichts anderes vorstellbar als Demokratie.
Sie verteidigen in Europa gerne die USA.
Heller: Ja, denn die Europäer verstehen die Vereinigten Staaten nicht. Die USA mögen ein Land mit viel Gewalt sein, das waren sie immer, aber sie haben sich immer auch selbst korrigiert. Dort opfern die Menschen ihr Leben, um etwas zu ändern. Das ist eine sich selbst korrigierende Gesellschaft. In Europa braucht man für Veränderungen immer Fremde.
Woher kommt die derzeitige Radikalisierung vieler Muslime in den arabischen Ländern?
Heller: Syrien, Irak, Ägypten – das waren alles Diktaturen. Und die stupiden Amerikaner und Europäer glaubten, wenn sie der Diktatur ein Ende bereiten, wird Demokratie einziehen wie einst in Japan oder in Europa. Sie hatten keine Ahnung von der Kultur dieser Länder. Der Diktator ist weg, gekommen ist Anarchie, ist Fundamentalismus. Das Beste wäre, sich gar nicht einzumischen. Natürlich ist Assad ein Massenmörder, doch die Oppositionellen sind es auch, warum sollten wir die unterstützen?
Weshalb zieht der Jihadismus so viele junge Menschen an?
Heller: Was ist im 1. Weltkrieg passiert? Auch der war sehr attraktiv für die jungen Leute. Ihnen war langweilig. Und plötzlich ist da Abenteuer: Wir können Helden werden, wir können sterben und wir können töten. Aber natürlich steckt auch eine totalitäre Ideologie dahinter. Die Idee von der islamistischen Weltherrschaft ist eine solche, so wie auch der Bolschewismus oder der Nazismus. Und totalitäre Ideologien haben Mobilisierungskraft.
Sie haben den Holocaust überlebt, Ihr Vater und viele Ihrer Freunde nicht. Empfinden Sie noch Zorn?
Heller: Es ist ein Trauma. Aber ich glaube nicht, dass ich das als Zorn identifizieren kann. Es gibt Dinge, die kann man nie vergessen, die bleiben in uns, machen uns sensitiv. Aber das kann man nicht mit dem Wort Zorn beschreiben. Es gibt keine Objekte meines Zorns. Man zürnt einem konkreten Menschen oder wegen eines konkreten Ereignisses. Etwa wenn gestreikt wird und ich deshalb nicht vorwärtskomme. Aber da ist Trauer. Trauer um meinen Vater, meine Cousinen, meinen besten Freund und meine erste Liebe.
Ihr langjähriger Wunsch, einmal auf die Nordkette zu fahren, wird sich im Anschluss an dieses Gespräch erfüllen. Was fasziniert Sie so daran?
Heller: Bis zum achten Lebensjahr habe ich jeden Sommer in Österreich verbracht – auf der Rax, in Radegund, in Mürzsteg. Die Verwandten meines Vaters waren aus Österreich. Die Berge waren meine Kindheit, deshalb sehne ich mich nach ihnen. Das ist eine Art Heimweh. Und als ich die Nordkette zum ersten Mal sah, war ich gleich in sie verliebt.
Das Gespräch führte Gabriele Starck
Steckbrief
Ágnes Heller wurde 1929 in Budapest geboren und überlebte als Kind jüdischer Eltern den Nazi-Terror. Nachdem sie einen Vortrag des marxistischen Philosophen Georg Lukács gehört hatte, entschied sie sich dafür, Philosophie zu studieren. Sie wurde eine der bedeutendsten Figuren der so genannten Budapester Schule. Aufgrund ihrer Kritik gegenüber der kommunistischen Partei wurde ihr verboten, weitere Bücher zu publizieren. 1976 emigrierten sie und ihr Mann Ferenc Fehér nach Australien. Später trat sie an der New School for Social Research in New York die Nachfolge von Hannah Arendt an. Vor zehn Tagen erhielt sie das Ehrendoktorat der Uni Innsbruck.