Kult

Geniestreich mit Schockeffekten: 50 Jahre „White Album“ der Beatles

Die Beatles auf der Gangway bei der Ankunft am Salzburger Flughafen am 13. März 1965.
© APA/CHRISTIAN SKREIN

Das „Weiße Album“ gehört zu den großen Mythen der Popmusik. Vor 50 Jahren erschien „The BEATLES“: 30 Songs mit über 90 Minuten Laufzeit - eine kreative Explosion, für manche Hörer ein Schock. Doch war der Geniestreich wirklich schon Vorbote für das Ende der Mega-Band?

Berlin – Wohl kein Werk der Beatles fordert und spaltet die Fangemeinde bis heute so sehr wie das vor 50 Jahren erstmals erschienene „Weiße Album“. Schon früh war Frontmann Paul McCartney klar, was seine Band mit dieser Platte angerichtet hatte: „Sie ist ein weiterer Schritt – aber nicht unbedingt in die Richtung, die die Leute erwartet haben.“

Manche Verehrer der harmonieverliebten Beatles ärgern sich über eine Handvoll sperrige, skizzenhafte Stücke. Für andere ist das Doppelalbum mit 30 Songs und gut 90 Minuten Laufzeit schlicht zu lang, sie hätten sich eine kompaktere Platte gewünscht. Doch obwohl das „Weiße Album“ auf die Meisterwerke „Rubber Soul“ (1965), „Revolver“ (1966) und „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ (1967) folgte, ist es für viele im Grunde die größte Leistung der Beatles.

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Das „Weiße Album“ bzw „The BEATLES“ (Erstveröffentlichung 22.11.1968) erscheint am Freitag (9. November) vor dem 50. Jahrestag in vier Formaten über Apple/Universal: als Super-Deluxe-Edition mit sechs CDs, einer Blue-Ray-Disc und Buch; als 3-CD-Edition; als 4-Vinylalben-Edition; als 2-Vinylalben-Edition.

„The BEATLES“ (so der offizielle Titel der Doppel-LP mit dem schlichten weißen Richard-Hamilton-Cover) zeigt eine Band kurz vor dem Auseinanderbrechen – und zugleich im Zenith ihrer Kreativität. Vom Düsenjet-Sound zu Beginn des rockigen „Back In The U.S.S.R.“ bis zum zarten Schlaflied „Good Night“: Diese pralle Wundertüte ist so kunterbunt, vielfältig und avantgardistisch wie kein anderes Werk der „Fab Four“.

Auf dem Höhepunkt und auf der Kippe

In kürzlich erschienenen Remaster-Versionen der Originalsongs sowie Dutzender Demos und Studio-Outtakes lässt sich das Faszinosum „White Album“ noch einmal gut nachvollziehen: Hier befanden sich die Briten – ein Jahr nach dem „Sgt. Pepper“-Triumph – auf der Höhe ihres Ruhms, wegen privater Abenteuer und Streitereien aber auch auf der Kippe. Und doch wussten die Beatles neue Aufbruchstimmung zu erzeugen.

Die weit verbreitete These, der Patchwork-Charakter des „Weißen Albums“ weise schon überdeutlich auf das knapp zwei Jahre später vollzogene Ende des Quartetts aus Liverpool hin, lässt sich damit jedenfalls kaum belegen. Obwohl nur auf der Hälfte der Tracks alle vier Beatles mitspielen, ist keine Entfremdung spürbar. Gerade in den nun beigefügten „Esher Demos“ aus dem Proberaum in George Harrisons Haus bei London ist der freundliche Umgang der Musiker offenkundig.

Drogen- und Eheprobleme bedrohten die Harmonie

Dabei war der Start tatsächlich holprig. Der „Summer of Love“ von 1967 war verflogen, die politischen Umbrüche des Jahres 1968 gingen auch an den Beatles nach ihrer psychedelischen Reise nicht vorüber. Die Sinnsuche beim indischen Guru Maharishi Mahesh Yogi war gescheitert. Drummer Ringo Starr ging seiner Band zeitweise wütend von der Fahne. Auch Drogen- und Eheprobleme bedrohten die Harmonie.

Zudem kam Stammproduzent George Martin mit dem neuen Material nicht zurecht und zog sich zurück. Der langjährige Toningenieur Geoff Emerick war ebenfalls nicht begeistert („das am wenigsten inspirierte Werk der Beatles“). Also suchten sich die vier Briten andere, jüngere Mitstreiter in den Abbey-Road-Studios und luden Gastmusiker wie Eric Clapton oder Lennons neue Flamme Yoko Ono ein.

„Ja, wir hatten Spaß“, erinnerte sich McCartney im Magazin Mojo an die von Ende Mai bis Mitte Oktober 1968 dauernden Sessions. „Egal was vorher schiefgegangen war, wer fortgerannt oder wer von wem genervt war – wenn wir uns hinsetzten, um zu spielen, dann geschah etwas.“ Auch Giles Martin, Sohn der 2016 gestorbenen Produzenten-Legende und Klangzauberer für Beatles-Jubiläumseditionen, meint, dass sich die Musiker für die „White Album“-Aufnahmen noch einmal zusammengerauft hatten. „Tatsächlich arbeitete die Band dann richtig gut miteinander. Soweit ich das hören kann, war die Atmosphäre bestens.“

Die Beatles wollten jedes Mal etwas anderes

Die Band habe sich 1968 auch vom Druck befreit, immer größere, bessere Alben machen zu müssen, betont Abbey-Road-Toningenieur Ken Scott, damals erst 21 Jahre alt, im Mojo. „Jeder erwartete von ihnen ein „Sgt. Pepper II“. Doch so waren die Beatles nicht, sie wollten jedes Mal etwas Anderes. Und die Leute waren geschockt.“

Man kann sich gut vorstellen, wie überrascht, auch konsterniert viele Fans nach dem „Sgt. Pepper“-Vorgänger – einem prächtigen Konzeptalbum aus einem Guss – auf manche neue Songs reagierten. Beispielsweise John Lennons „Revolution 9“, eine über achtminütige Soundcollage. Oder McCartneys später vom mörderischen Sektenführer Charles Manson missbrauchte Hardrock-Pioniertat „Helter Skelter“; das frivole „Why Don‘t We Do It In The Road?“; das ruppige „Yer Blues“; der eher alberne Kindersingsang „Ob-La-Di, Ob-La-Da“.

Doch das „Weiße Album“ enthält eben auch einige der schönsten Balladen der Beatles: „Julia“, „Dear Prudence“, „Martha My Dear“, Harrisons Klassiker „While My Guitar Gently Weeps“. Andere Lieder orientieren sich an Folk, Blues, Countrypop, Art-Rock oder gar Ragtime-Jazz („Honey Pie“). Auf Giles Martin wirkt das zunächst zerrissen klingende Studio-Großwerk daher heute „wie ein Gemälde von Jackson Pollock – ein Herumspritzen mit Ideen“.

Weltweit Platz 1 der Charts

Vielleicht hätten die Beatles nach dem „White Album“, das ungeachtet all seiner Experimentierfreude weltweit Platz 1 der Charts belegte und sich schon bis zur jetzigen Wiederveröffentlichung rund 18 Millionen Mal verkauft haben soll, einfach mal sechs Monate Urlaub voneinander nehmen sollen. Dann hätte die Band womöglich noch länger funktionieren können, mutmaßen Musikkenner.

Wie auch immer: Die Geschichte ging bekanntlich anders aus. Nach „Yellow Submarine“ und „Abbey Road“ (beide von 1969) sowie „Let It Be“ (1970) war Schluss. „Das Tempo, das sie vorgelegt haben, konnten sie nicht durchhalten“, sagte Giles Martin dazu im Deutschlandfunk. „Und deshalb ist der Grund, warum sich die Beatles getrennt haben, auch einfach - weil ihre Flamme zu hell brannte.“ (dpa)

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