Von Evelin Stark
Innsbruck – Seit Großbritannien den Auszug aus der Europäischen Union angekündigt hat, leidet die gesamte Nation unter Isolation und Einsamkeit. Eine gewagte Aussage, die natürlich so nicht stimmt. Die Insel hat allerdings tatsächlich ein Problem mit der Einsamkeit, wie eine Studie mehrerer wohltätiger Organisationen ergeben hat.
Demnach leiden mehr als neun Millionen Briten unter dem Gefühl, einsam zu sein. Das sind 14 Prozent der Bevölkerung. Kein Wunder also, dass Premierministerin Theresa May vor wenigen Tagen einen Ministerposten für bzw. gegen die Einsamkeit eingerichtet hat. Sportstaatssekretärin Tracey Crouch hat diesen Aufgabenbereich nun zusätzlich übernommen.
Woher die Einsamkeit kommt, wen sie betrifft und wie man mit ihr umgehen kann, damit beschäftigen sich „auf dem Kontinent“, wie die Briten gern sagen, zwar keine Ministerien, die Problematik ist trotzdem in aller Munde. In Deutschland etwa fordert der CDU-Politiker Marcus Weinberg eine Enttabuisierung des Themas, „damit einsame Menschen eine Lobby haben und Einsamkeit nicht in einer Schmuddelecke bleibt“.
Auch die Tiroler fühlen sich einsam: „Ein Großteil unserer Anrufe hat Einsamkeit zum Thema“, sagt Silvia Humml, Fachreferentin der Telefonseelsorge Innsbruck. Dass die Menschen bei der Stelle anrufen, sei schon ein Zeichen dafür, dass sie ihre Einsamkeit als Problem wahrnehmen.
Martin Thurner ist Psychologe der Tirol Kliniken am Haller Krankenhaus und beschäftigt sich in seiner Arbeit viel mit der Einsamkeit: „Manche Menschen sind kontaktfreudiger, andere eher verschlossen. Prinzipiell ist der Mensch aber ein soziales Wesen – wir brauchen das Eingebundensein in ein soziales System.“ Durch die zunehmende Automatisierung der Welt bestehe aber die Gefahr, dass die sozialen Kontakte zurückgehen: „Einsamkeit wird in der westlichen Welt generell zu einem großen Thema werden. Alltägliche Kontakte wie in der Bank oder beim Supermarkt werden immer weniger werden“, so der Psychologe.
Ein Blick auf die Zahlen der allein lebenden Menschen zeigt, dass auch die Tiroler Gefahr laufen, zu vereinsamen: Landesweit gibt es mit Stand 2015 exakt 109.980 Einpersonenhaushalte, im Vergleich liegt die Zahl der Mehrpersonenhaushalte bei 204.375 – also doppelt so viel. Der städtische Bereich zeigt ein anderes Verhältnis: Während 33.203 Haushalte in Innsbruck-Stadt mehr als eine Person beheimaten, kommen die Haushalte, die allein bewohnt sind, auf fast dieselbe Zahl, nämlich 31.756 (Stand 2015).
Körperliche und psychische Erkrankungen werden oftmals als Risikofaktoren für Einsamkeit genannt. „Umgekehrt kann es auch sein, dass Einsamkeit zum Auftreten psychischer Erkrankungen führt. Es können krankheitswertige Beschwerden – wie z. B. Depressionen oder Suchterkrankungen – daraus resultieren“, sagt Thurner. Einsamkeit stelle zudem ein ernstzunehmendes Motiv für Selbstmord dar.
„Die Einsamkeit ist ein Phänomen mehrerer Generationen, das stark im Zunehmen begriffen ist“, sagt auch Georg Schärmer, Direktor der Caritas Innsbruck. Sie könne bereits in der Kindheit beginnen, wenn Eltern zum Beispiel an Suchtkrankheiten leiden. Die Kinder würden sich z. B. zurückziehen, weil sie sich schämen, Freunde mit nach Hause zu bringen.
In der Jugend geht es weiter: „In Tirol sind mehrere 100 Jugendliche von Einsamkeit betroffen. Besonders diejenigen, die nach der Pflichtschule keinen Beruf ergreifen, ziehen sich zurück oder bewegen sich in bedenklichen Scheinwelten“, erklärt Schärmer.
Am meisten betroffen von Einsamkeit sind allerdings ältere Personen. „Dies hat oftmals lebensgeschichtliche Wurzeln, etwa das Zerbrechen von Partnerschaften oder wenn man beruflich so eingespannt ist, dass im Laufe der Jahre die sozialen Kontakte verloren gehen“, weiß der Caritas-Direktor.
Er setzt deshalb in seiner Arbeit klare Impulse gegen die Einsamkeit, eines seiner „Herzensthemen“: So gibt es etwa für pflegende Angehörige, die oftmals sehr abgekapselt leben, Erholungs- und Auftankwochen, die ihnen neue soziale Kontakte ermöglichen. Auch für die Jugend ist gesorgt: Das Caritas-Jugendzentrum in der Innsbrucker Reichenau dient für viele Jugendliche als „erweitertes Wohnzimmer“. Das Angebot werde gut angenommen.
„Bei großem Leidensdruck ist es sinnvoll, professionelle Unterstützung anzunehmen“, empfiehlt Martin Thurner. Kann man sich dazu nicht aufraffen, hilft vielleicht schon ein Anruf bei der Telefonseelsorge. Humml: „Wir hören gern eine halbe Stunde zu und versuchen zu erklären, welche Möglichkeiten es gibt, mit Einsamkeit umzugehen.“