Gesundheit

Essgestörte werden auch in Tirol immer jünger

Die Nahrungsverweigerung hat nicht immer Schönheitsgründe. Je jünger die Patienten sind, desto mehr Einfluss hat die Familie auf ihren Umgang mit dem Essen.
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Mädchen und auch Buben erkranken immer früher an einer Essstörung. Das Thema wird beim Kinder- und Jugendpsychiatriekongress in Innsbruck diskutiert.

Von Theresa Mair

Innsbruck –Die jüngste Patientin hat mit neun Jahren aufgehört zu essen. Kathrin Sevecke, Direktorin der Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Primaria der gleichnamigen Abteilung am Landeskrankenhaus Hall, stellt eine Tendenz zu immer jüngeren Patienten mit Essstörungen fest. Auch bei den Buben.

Diese seien ebenso oft erst neun oder zehn Jahre alt. Während sich Burschen an ihrer Vorgänger-Klinik in Köln aber durchaus in stationäre Behandlung begeben hätten, könne sie sich hier nur auf die Berichte niedergelassener Therapeuten stützen. „In Tirol scheint es noch mehr Ressentiment gegenüber stationärer Behandlung zu geben“, bedauert Sevecke. Eigentlich würden nämlich auch die Buben auf die Klinik gehören. Es müsse daher noch mehr geschehen, um Vorurteile und Tabus abzubauen.

Der gesellschaftliche Schön- und Schlankheitswahn sei dabei nur einer von mehreren Faktoren, die zu einer Essstörung führen können. „Je jünger der Patient, desto größer ist der familiäre Einfluss“, sagt die Klinikleiterin. Bei Buben beobachtet sie, dass häufig der Sport- und Leistungsgedanke eine Rolle spielt, weil sie z. B. für das Skispringen oder Klettern ein möglichst niedriges Gewicht anstreben.

Eine Studie mit der Innsbrucker Uniklinik für Neuroradiologie habe zudem organische Unterschiede zwischen Gesunden und von Essstörungen Betroffenen zutage gefördert. „Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren zu Therapiebeginn mit niedrigem Gewicht und zu Therapieende haben gezeigt, dass bei Essstörungen das Gehirnvolumen schrumpft. Es nimmt im Verlauf der Behandlung dann aber wieder zu“, sagt sie. Dies bestätige zwar, dass es organische und funktionelle Unterschiede gibt, aber nicht, ob diese auch eine Ursache für die Entwicklung von Essstörungen sein könnten.

Besagte Studie und weitere wissenschaftliche Erkenntnisse werden am Freitag und Samstag beim 5. Kinder- und Jugendpsychiatriekongress in Innsbruck thematisiert werden. 300 Teilnehmer haben sich für die Tagung mit nationalen und internationalen Referenten angekündigt, die sich heuer unter dem Titel „Zwischen Hungerwahn und Fressanfällen“ den so genannten „Eating Disorders“ widmet. Magersucht, Ess-Brech-Sucht und Binge Eating (Essattacken und damit verbundenes Übergewicht) gehören dazu wie auch zahlreiche Mischformen von Essstörungen.

Außerdem wird ein neues multidisziplinäres Behandlungskonzept präsentiert, das an der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hall ausgearbeitet wurde und vor der Veröffentlichung steht.

70 Kinder und Jugendliche, die mehrheitlich zwischen 15 und 17 Jahre alt sind, werden in Hall pro Jahr ambulant oder stationär behandelt. Auf der Warteliste befinden sich ständig zehn bis 15 Betroffene, die nach Dringlichkeit gereiht werden.

„Wir haben sechs Betten für alle Formen von Essstörungen, auch für Patienten mit starkem Übergewicht, wenn dieses mit psychischen und psychosozialen Belastungen verbunden ist“, sagt die stationsleitende Oberärztin Sigrid Hartlieb. Bei der Therapie setze man auf Einzel- und Gruppentherapie-Formen, z. B. Ergo-, Physio-, Kunst-, oder Reittherapie. Ganz neu sei eine Achtsamkeits- und Selbsterfahrungsgruppe. „Wenn eine Patientin anfangs ihre Probleme vielleicht noch nicht verbalisieren kann, werden diese Themen im Zuge einer Kunst- oder Reittherapie präsent und können dann von der Esstherapeutin weiter aufgenommen werden“, erklärt Hartlieb den interdisziplinären Ansatz.

Wenn es darum geht, wieder einen „normalen“ Umgang mit dem Essen abseits von Kalorienzählen zu erlernen, tritt Diätologin Alice Angermann in Erscheinung. Die Ernährungstherapie ist eine weitere Neuerung, bei der im Sinne der ganzheitlichen Betrachtung von Essstörungen – Familie, Schule und soziales Umfeld werden berücksichtigt – phasenweise auch die Eltern mit an den Tisch gebeten werden.

Angermann räumt mit Ängsten auf und durchleuchtet Ernährungsmythen. Sie geht mit den Patienten zum „therapeutischen Einkaufen“, ersetzt den „Kalorien“-Begriff mit „Nahrungsenergie“. „Wir kochen und essen gemeinsam, alle die gleich großen Portionen in einer vorgegebenen Zeit. Das gibt Struktur.“ Dabei sitzen magersüchtige und übergewichtige Patienten zusammen – wie im richtigen Leben. Denn gerade nach einem langen stationären Aufenthalt, der sich über viele Monate hinzieht, sei die Rückkehr in den Alltag oft ein Knackpunkt.

Nachsorge ist daher ein wichtiges Thema. Die Hälfte der Patienten könne nach einer stationären Therapie als geheilt ins Erwachsenenleben entlassen werden. 30 Prozent erleiden Rückfälle und müssen mitunter mehrfach stationär aufgenommen werden und 20 Prozent entwickeln eine chronische Essstörung mit psychischen Begleiterkrankungen wie Ängsten. „Je jünger der Patient, je niedriger das Gewicht und je länger die Essstörung besteht, desto mehr Begleiterkrankungen entstehen“, sagt Sevecke. Sie appelliert daher an Betroffene und deren Umfeld, aufmerksam zu sein und so früh wie möglich professionelle Hilfe zu suchen.

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