London - Ein schwarzes Gerippe ragt in den tiefblauen Londoner Sommerhimmel. Im Inneren des Grenfell Tower schwelt das Feuer an einzelnen Stellen auch am Freitag noch, sagen Augenzeugen. Vor dem ausgebrannten Sozialbau suchen Menschen mit Fotos und Aushängen verzweifelt nach Hinweisen auf Freunde und Angehörige.
Ein Bub sucht seinen Mitschüler. Eine Mutter soll mit ihren sechs Kindern aus der Wohnung hoch oben geflohen - und mit nur vier Kindern unten angekommen sein. Viele Vermisste werden den katastrophalen Hochhausbrand im Londoner Stadtteil Kensington nicht überlebt haben. Die Flammen sind nach Stunden fast gelöscht, doch dafür flammt in aller Verzweiflung Wut auf.
Zahl der Opfer wird wahrscheinlich dramatisch steigen
Mindestens 30 Menschen verloren ihr Leben. 24 waren am Freitag noch im Krankenhaus, zwölf davon in kritischem Zustand. "Wir erwarten, dass die Zahl der Opfer noch weiter steigen wird", sagte Stuart Cundy von der Londoner Polizei. Die Behörde rechnet mit mehr als 60 Todesopfern, wollte aber auch eine dreistellige Zahl nicht ausschließen.
Niemand weiß genau, wie viele Männer, Frauen und Kinder in dem 24-stöckigen Sozialbau waren, als in der Nacht auf Mittwoch das Feuer ausbrach. Berichten zufolge sollten dort zwischen 400 und 600 Menschen leben. Niemand weiß, wie viele es lebend raus schafften, wie viele drinblieben. Dass gerade Ramadan ist, könnte einigen das Leben gerettet haben. Sie waren zum Essen noch wach, als das Feuer ausbrach - und sollen auch Nachbarn aus dem Bett geholt haben.

Die Feuerwehr kann die oberen Stockwerke nicht gründlich durchsuchen. Die Ränder des quadratischen Turms sind instabil. Auch deshalb arbeiten die Rettungsteams mit Drohnen und Spürhunden. Die könnten schneller eine größere Fläche nach weiteren Opfern absuchen, hieß es.
Es sieht aus, als könne die Fassade jederzeit bröckeln. Wochen werde die Arbeit noch dauern, kündigt Feuerwehr-Chefin Dany Cotton an. Hat Cotton Hoffnung, noch jemanden lebend zu finden? "Es wäre ein Wunder", sagt die junge Frau.
Queen und Prinz William trafen Opfer und Helfer
Unterdessen hat die britische Königin Elizabeth II. und Prinz William Opfer und Helfer der Brandkatastrophe getroffen. Die Queen und ihr Enkel besuchten am Freitag eine Notunterkunft in einem Fitnesscenter im Stadtteil Kensington in der Nähe des Brandorts.

Schon am Donnerstag hatte die Monarchin den Mut der Feuerwehrleute und die "unglaubliche Großzügigkeit" der freiwilligen Helfer gewürdigt. Bei dem Hochhausbrand kamen in der Nacht auf Mittwoch mindestens 17 Menschen ums Leben. Dutzende weitere werden noch vermisst.
Wer ist Schuld?
Anrainer und Angehörige stellen immer lauter die Frage nach Schuld. Wie konnte es passieren, dass das Haus wie eine Fackel rasend schnell in Flammen aufging? Welche Rolle spielte die Fassadendämmung? Reichen die britischen Brandschutzbestimmungen aus? Premierministerin Theresa May ordnet eine unabhängige Untersuchung an. Oppositionsführer Jeremy Corbyn demonstriert Gefühl: Es gebe viele Hochhaus-Bewohner im Land. "Jede einzelne Person wird sich heute fragen: Wie sicher bin ich?"
Die Flammen im Grenfell Tower hätten sich ungewöhnlich rasch ausgebreitet, berichtet Feuerwehr-Chefin Cotton. "So ein Feuer habe ich in meiner ganzen Karriere noch nicht gesehen." Doch zu den Gründen dafür könne man noch nichts sagen, betont sie.
Der mehr als 40 Jahre alte Apartment-Block mit 120 Wohnungen hatte keine Sprinkleranlage - obwohl er bis zum vergangenen Jahr noch renoviert wurde. Eigentlich wird Brandschutz in Großbritannien sehr ernst genommen. In neueren Hochhäusern sind Sprinkler Behördenangaben zufolge auch vorgeschrieben. Eine Pflicht zur Nachrüstung gibt es jedoch nicht.
"Sie haben diese Menschen umgebracht"
"Der Feueralarm ist nicht angegangen, deshalb sind so viele jetzt tot", äußert Bewohner Sitalih schwere Vorwürfe. Er habe es lebend aus dem 15. Stock geschafft, weil seine Frau das Feuer früh gerochen habe. Das Haus sei nicht sicher gewesen. Sitalih berichtet von offenen Leitungen und falschen Installationen. "Die Firma muss dafür bezahlen", fordert er. "Sie haben diese Menschen umgebracht."
Hintergrund
Mindestens 30 Menschen sind beim Brand im Grenfell Tower ums Leben gekommen, Dutzende liegen in Spitälern oder werden noch vermisst. Mehr zur Katastrophe im Herzen Londons lesen Sie hier: http://go.tt.com/2rn3XBq
Die 51-jährige Sonja Edwards sagt, alle hätten gesehen, dass das Haus nicht sicher sei. "Aber die Firma hat es nicht interessiert. Die wollte es einfach nur von außen schön machen. Das hat jetzt viele Menschen das Leben gekostet."
Polizei und Feuerwehr warnen eindringlich vor Spekulationen. Doch auch ihnen machen viele Vorwürfe. Sie hätten Bewohner aufgefordert, in ihren Wohnungen zu bleiben und nasse Handtücher unter die Türen zu legen statt zu fliehen.
War das ein Fehler? Kann man irgendjemandem die Schuld geben für Tod und Leid? Und warum brach das Feuer aus? Antworten wird es - vielleicht - in einigen Wochen geben. Die Bilder von verzweifelt winkenden, vom Feuer eingeschlossenen Menschen, von Kindern, die aus dem Fenster gehalten und irgendwann einfach fallen gelassen werden, von einem verkohlten Gerippe im Londoner Sommerhimmel, die werden so schnell nicht aus den Köpfen der Anrainer und Helfer verschwinden. (TT.com, APA, Theresa Münch und Jacqueline Rother, dpa)