Wien

Angeblicher Vierfachmord: Freispruch für 23-jährigen Iraker in Wien

(Symbolfoto)
© TT/Thomas Böhm

Unter Folter hat die irakische Polizei dem jungen Mann 2013 ein Geständnis entlockt. Ihm wurde vorgeworfen, seine eigene Familie erstochen zu haben.

Wien – Ein junger Iraker ist am Dienstag von einem Wiener Schwurgericht vom Vorwurf freigesprochen worden, im April 2013 als 17-Jähriger in seiner Heimat einen Vierfachmord begangen zu haben. Die Geschworenen glaubten dem mittlerweile 23-Jährigen mehrheitlich, dass ihm von der irakischen Polizei unter Folter ein falsches Geständnis abgepresst wurde.

Die Abstimmung der Geschworenen über die Schuldfrage fiel mit 6:2 Stimmen zugunsten des Angeklagten aus. Nachdem der Vorsitzende den Freispruch verkündet hatte, fiel der junge Iraker zunächst seinem Verteidiger Andreas Storbl um den Hals und umarmte diesen. Danach ließ er sich sichtlich gelöst von seinen Freunden und seiner ehemaligen Lebensgefährtin zum Verfahrensausgang beglückwünschen. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig, der Staatsanwalt gab vorerst keine Erklärung ab.

Vorwurf: Großmutter, Frau des Onkels und zwei Cousinen getötet

Dem Mann war vorgeworfen worden, kurz vor seiner Matura seine Großmutter, die Frau seines Onkels und zwei Cousinen in ihrem Haus in der Nähe von Mossul erstochen zu haben. Im Landesgericht für Strafsachen versicherte der 23-Jährige in erstklassigem Deutsch - er befindet sich seit 2016 in Österreich -, er sei für das Blutbad nicht verantwortlich. Er sei seinerzeit zwar wenige Stunden nach der Tat als vermeintlicher Mörder in seiner Heimat festgenommen worden. Die irakische Polizei habe ihn aber schwer gefoltert und ihn zu einem Geständnis vor einem Richter gezwungen, das sogar im irakischen Fernsehen gezeigt wurde.

Das Video mit dem Geständnis wurde auch im Gerichtssaal abgespielt. Es zeigte einen sichtlich verschreckten Jugendlichen, der in kurzen Worten schildert, wie er vier Familienmitglieder getötet hat. Die Bilder wirkten gespenstisch. Ein - nicht im Bild ersichtlicher - Polizist unterbrach den 17-Jährigen mehrfach mit Fragen und Zwischenbemerkungen. Ein Mal wurde er laut, worauf der Jugendliche seine Antwort umgehend korrigierte.

Der Angeklagte räumte ein, er habe sich am Tag der Bluttat am Tatort befunden. Er hätte seine Großmutter besucht, habe dieser, der Tante und den zwei Mädchen im Alter von fünf und zwölf aber nichts angetan. Er behauptete, er könne sich nur mehr erinnern, wie er am Küchentisch saß und seine Großmutter in den Nebenraum zum Beten ging. Dann setze seine Erinnerung aus - möglicherweise, weil er von dem unbekannten Täter, den er nicht kommen gehört habe, einen Schlag auf den Kopf bekam. Seine Erinnerung setze wieder in einem Spital in Mossul ein, wo er mit Verletzungen und Schmerzen am ganzen Körper zu sich gekommen sei.

Folter „wie in Hollywood-Filmen“

Wenig später sei er von der Polizei im Krankenhaus festgenommen worden, schilderte der Angeklagte. Bereits auf der Fahrt zur Polizeistation habe man ihn geschlagen, danach schwerer Folter unterzogen. „Sie haben das alles gesehen, in Hollywood-Filmen. Es ist anders, wenn man das erlebt“, sprach der 23-Jährige die Geschworenen direkt an. Im Anschluss legte er detailliert, wenn auch stockend die Folter-Methoden dar, denen er ausgesetzt gewesen sei. Unter anderem erzählte er, wie Zigaretten an ihm ausgedämpft wurden. Nachher habe sich der betreffende Polizist die Zigarette immer wieder angezündet und „Deine Haut schmeckt gut“ gesagt.

Um weiteren Misshandlungen zu entgehen, habe er schließlich das ihm vorgegebene Geständnis auswendig gelernt und später vor dem Richter wiederholt. Diesem Geständnis zufolge soll der damals 17-Jährige den Vierfachmord begangen haben, weil er auf den Familienschmuck aus war und unter Lernstress stand - der Bursch stand kurz vor der Matura.

Der Angeklagte stammt allerdings aus besten Verhältnissen - sein Vater arbeitete als leitender Ingenieur in einer Zementfabrik, seine Mutter als Englischlehrerin. Der Vater hatte ihm kurz zuvor ein Grundstück geschenkt. „Ich habe alles bekommen, was ich mir gewünscht habe“, versicherte der 23-Jährige dem Gericht. Und mit dem Lernen habe er sich nie schwergetan - eine Behauptung, die sein Werdegang in Österreich zu bestätigen scheint. Nach drei Jahren in Wien spricht der Mann perfekt Deutsch, absolviert eine Lehre zum Bürokaufmann hat einen Job als Trainer im einem Sportverein gefunden.

Nach dem auf Video festgehaltenen Geständnis war der damals 17-Jährige von der Polizei in ein Gefängnis in Mossul gebracht worden, wo er über 14 Monate in einer eineinhalb Meter großen Zelle einsaß, ohne dass gegen ihn Anklage erhoben worden wäre. Dann nahm die Terror-Miliz „Islamischer Staat“ (IS) die Stadt ein. Der IS hätte „alle Gefangenen befreit“, schilderte der 23-Jährige: „Sie haben einfach die Tür aufgemacht und wir sind rausgegangen.“ Er sei mit einem Taxi zu seinen Eltern gefahren. Gemeinsam mit diesen sei er dann in die Türkei geflüchtet. Während diese dort blieben, setzte er allein seine Flucht nach Österreich fort - er hätte sich in der Türkei nicht sicher gefühlt, erläuterte der junge Mann.

Auslieferung in den Irak abgelehnt

Auf die Frage, weshalb er in seinem Asylverfahren den ihm unterschobenen Mord nicht erwähnt habe, meinte der 23-Jährige, er habe befürchtet, dann in den Irak abgeschoben zu werden. Tatsächlich trat der Irak 2016 an die österreichischen Behörden heran und verlangte die Auslieferung des vermeintlichen Vierfachmörders. Diesem wurde nicht Folge geleistet, da dem 23-Jährigen im Fall einer Verurteilung in seiner ursprünglichen Heimat die Todesstrafe drohen würde. Daher leitete die Staatsanwaltschaft Wien ein Inlandsverfahren ein, der Iraker wurde in Wien in U-Haft genommen.

Nach neunmonatiger U-Haft wurde er dank seines Verteidigers Andreas Strobl auf freien Fuß gesetzt. Die irakischen Behörden hatten ein Rechtshilfeersuchen der Wiener Justiz, die um die Übermittlung der Unterlagen der irakischen Strafverfolgungsbehörden gebeten hatte, weitgehend unbeantwortet gelassen. Teile des Akts landeten schließlich über einen Verbindungsbeamten der österreichischen Botschaft in Jordanien in Wien - das Konvolut enthielt aber kein einziges Originaldokument und war offensichtlich unvollständig.

So lieferte Verteidiger Strobl in der heutigen Verhandlung Protokolle mit den Angeklagten entlastenden Aussagen seiner Eltern nach, die seinerzeit im Irak von der Polizei vernommen worden waren. Strobl legte auch Dokumente vor, die die Grundstücksübertragung an den Sohn und die beruhigenden Vermögensverhältnisse der Familie belegten. „Für irakische Verhältnisse waren sie reich. Warum hätte er seine Großmutter umbringen sollen, die er geliebt hat?“, gab der Anwalt zu bedenken.

Zuguter letzt machte Strobl noch auf einen wesentlichen Umstand aufmerksam. Laut irakischer Polizei hatte der Täter am Tatort Blutspuren hinterlassen, wobei dieser die Blutgruppe null aufgewiesen habe. Einem Befund eines Wiener Blutlabors vom 19. Juli 2019 zufolge hat der Angeklagte die Blutgruppe AB negativ. (APA)

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